Neuromancer-Trilogie
da.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dass du kommst. Dass du nicht sauer auf mich bist. Er hat gesagt, es würde gut mit uns hier, und mir erklärt, wo der Teich mit dem Regenwasser ist. Er sieht aus wie’n Mexikaner.«
»Ist’n Brasilianer«, sagte Case, während eine neue Reihe von Symbolen die Wand hinabrann. »Aus Rio, glaub ich.« Er stand auf und zwängte sich in seine Jeans.
»Case«, sagte sie mit bebender Stimme, »Case, wo gehst du hin?«
»Den Jungen suchen.« Die Musik wurde wieder lauter; nach wie vor nur ein gleichmäßiger, bekannter Rhythmus, den er freilich noch nicht einzuordnen vermochte.
»Tu’s nicht, Case.«
»Ich glaub, ich hab was gesehn, als ich herkam. Eine Stadt unten am Strand. Aber gestern war sie nicht mehr da. Haste die schon mal gesehn?« Er zog den Reißverschluss zu und zerrte an dem verworrenen Knoten in seinen Schnürsenkeln; schließlich schmiss er die Schuhe in die Ecke.
Sie nickte, den Blick gesenkt. »Ja. Ich seh sie manchmal.«
»Schon mal dort gewesen, Linda?« Er schlüpfte in seine Jacke.
»Nein«, sagte sie, »aber ich hab mal versucht hinzugehn. Ich war noch nicht lange hier und hab mich gelangweilt. Jedenfalls dachte ich mir, wenn’s’ne Stadt ist, kann ich da vielleicht Stoff kriegen.« Sie zog eine Grimasse. »Ich war nicht mal auf Entzug, ich hatte einfach Bock drauf. Also hab ich Essen in’ne Dose getan und es reichlich flüssig gemacht, weil ich keine zweite Dose fürs Wasser hatte. Und dann bin ich den ganzen Tag gelaufen. Manchmal hab ich sie gesehn, die Stadt. Schien nicht allzu weit zu sein. Aber sie kam nicht näher. Und dann kam sie doch näher, und ich hab gesehn, was es war. An dem Tag hatte sie manchmal wie’n Trümmerfeld ausgesehn, oder als ob niemand mehr da wär, und dann hab ich wieder gedacht,
ich hätt Licht von’ner Maschine gesehn, von Autos oder so …« Ihre Stimme verklang.
»Und was isses nun?«
»Das hier.« Sie deutete auf die Feuerstelle, die dunklen Wände, die vom Morgengrauen hervorgehobenen Umrisse des Eingangs. »Unsre Behausung. Sie wird kleiner , Case, je näher man rankommt.«
Am Eingang hielt er ein letztes Mal inne. »Hast du den Jungen danach gefragt?«
»Ja. Er hat gesagt, ich würd’s nicht verstehn, es wär die reine Zeitverschwendung. Es wär so was wie … wie’n Ereignis. Und es wär unser Horizont. Ereignishorizont hat er’s genannt.«
Mit diesen Begriffen konnte Case nichts anfangen. Er verließ den Bunker und marschierte aufs Geratewohl los, wobei er sich – das hatte er irgendwie im Gefühl – vom Meer entfernte. Jetzt schossen die Hieroglyphen über den Sand, sie flohen vor seinen Füßen, wichen vor ihm zurück. »He«, sagte er, »es bricht zusammen. Das weißt du garantiert auch. Woran liegt’s? Am Kuang? Frisst dir der chinesische Eisbrecher’n Loch ins Herz? Vielleicht ist die Dixie-Flatline doch’n zu harter Brocken für dich, hm?«
Er hörte, wie sie seinen Namen rief. Er blickte sich um und sah, dass sie ihm folgte; sie versuchte jedoch nicht, ihn einzuholen. Der kaputte Reißverschluss ihres französischen Overalls schlug gegen ihren braunen Bauch, und Schamhaar lugte durch den zerrissenen Stoff. Sie sah aus wie ein zum Leben erwachtes Covergirl auf den alten Magazinen des Finnen im Metro Holografix, nur dass sie müde und traurig und ganz einfach menschlich war; wie sie so in ihrem zerfetzten Gewand über die salzsilbrigen Seegrasbüschel dahinstolperte, bot sie ein Bild des Jammers.
Und dann standen sie irgendwie in der Brandung, alle drei, und das Zahnfleisch des Jungen leuchtete breit und rosa aus
dem schmalen braunen Gesicht. Er trug schäbige, farblose Shorts, und seine Glieder wirkten schmächtig vor dem fließenden Blaugrau der Wellen.
»Ich weiß, wer du bist«, sagte Case. Linda stand neben ihm.
»Nein«, erwiderte der Junge mit hoher, melodiöser Stimme, »das weißt du nicht.«
»Du bist die andere KI. Du bist Rio. Du bist derjenige, der Wintermute aufhalten will. Wie heißt du? Was ist dein Turing-Code? Na?«
Der Junge machte einen Handstand in den Wellen und lachte. Er ging auf den Händen und schnellte sich dann aus dem Wasser. Seine Augen waren die von Riviera, aber es lag keine Bösartigkeit darin. »Um einen Dämon zu rufen, muss man seinen Namen kennen. Einst haben die Menschen davon geträumt, aber nun ist es auf andere Weise wahr geworden. Das weißt du, Case. Es ist dein Job, die Namen von Programmen zu lernen, die langen, formellen Namen, die die
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