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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
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erhob. Seit neun Jahren war das Mitchells Heimat, sein Kerker, seine Festung. Irgendwo tief im Innern des Berges hatte er die Hybridom-Verfahren perfektioniert, denen andere Forscher fast ein Jahrhundert lang vergeblich auf die Spur zu kommen versucht hatten; unter Verwendung menschlicher Karzinomzellen und eines vernachlässigten, fast vergessenen Modells der DNS-Synthese hatte er die unsterblichen Hybridzellen erzeugt, elementare Werkzeuge einer neuen Technologie, die als winzige biochemische Fabriken unaufhörlich jene gentechnisch veränderten Moleküle produzierten, die gekoppelt und zu Biochips aufgebaut wurden. Irgendwo in der Maas-Arcologie würde Mitchell gerade seine letzten Stunden als Star-Forscher des Unternehmens durchleben.
    Turner versuchte sich vorzustellen, wie Mitchell nach seinem Übertritt zu Hosaka ein völlig anderes Leben führen würde, aber es fiel ihm schwer. Gab es wirklich einen Unterschied zwischen einer Forschungsarcologie in Arizona und einer auf Honshu?

    Es hatte Momente gegeben an diesem langen Tag, in denen Mitchells verschlüsselte Erinnerungen in ihm hochgestiegen waren und ihn mit einer seltsamen Angst erfüllt hatten, die in keinem Zusammenhang mit der bevorstehenden Operation zu stehen schien.
    Es war deren Intimität, die ihn nach wie vor beunruhigte. Vielleicht löste sie die Angst aus. Bestimmte Fragmente waren von einer emotionalen Intensität geprägt, die in keinem Verhältnis zu ihrem Inhalt stand. Warum sollte ihn die Erinnerung an den schlichten Flur eines schmuddeligen Studentenwohnheims in Cambridge mit Schuldgefühlen und Selbstverachtung erfüllen? Andere Bilder, die eigentlich mit Gefühlen hätten befrachtet sein müssen, ließen jeden Affekt vermissen: Mitchell, wie er auf dem hellen Wollteppich eines gemieteten Hauses in Genf mit seinem kleinen Töchterchen spielte; das Kind zog lachend an seiner Hand. Nichts. Das Leben dieses Mannes war aus Turners Sicht von Anfang an in festgelegten Bahnen verlaufen. Er war hochintelligent, wie sich schon früh herausgestellt hatte, sehr motiviert und mit der Fähigkeit begabt, andere Menschen höflich, aber rücksichtslos zu manipulieren, eine unerlässliche Voraussetzung, falls man innerhalb einer Firma eine Spitzenposition in der Forschung erreichen wollte. Wenn jemand dazu prädestiniert war, in der Hierarchie von Firmenlabors aufzusteigen, fand Turner, dann Mitchell.
    Turner selber war außerstande, sich in die stark von Sippenstrukturen geprägte Welt der Zaibatsuleute, der Lebenslänglichen, einzufügen. Er war ein ewiger Außenseiter, ein unberechenbarer Faktor, Treibgut auf den geheimen Meeren der Konzernpolitik. Kein Firmenangestellter wäre in der Lage gewesen, die Initiative aufzubringen, die Turner im Laufe einer Abwerbung an den Tag legen musste. Kein Firmenangestellter besaß die professionelle Lässigkeit, mit der Turner bei einem
Auftraggeberwechsel seine Loyalität umpolte – wahrscheinlich aber auch nicht sein unbeugsames Pflichtgefühl, sobald ein Vertrag unter Dach und Fach war. Turner war in seinen späten Teeniejahren in der Sicherheitsbranche gelandet, als die böse Flaute der Nachkriegswirtschaft dem durch neue Technologien ausgelösten Aufschwung wich. In Anbetracht seines generellen Mangels an Ehrgeiz hatte er im Sicherheitsbereich gute Arbeit geleistet. Er hatte eine sehnige, muskulöse Figur, die auf die Kunden seines Arbeitgebers Eindruck machte, und er war alles andere als dumm. Er verstand es, sich gut zu kleiden. Und er hatte ein Händchen für Technik.
    Conroy hatte ihn in Mexiko gefunden, wo Turners Arbeitgeber den Personenschutz für ein Simstim-Team von Sense/Net übernommen hatte, das mehrere 30-Minuten-Folgen für eine Dschungelabenteuerserie drehte. Als Conroy eintraf, hatte Turner seine Vorkehrungen praktisch abgeschlossen. Er hatte Kontakte zwischen Sense/Net und den örtlichen Behörden geknüpft, den Polizeichef der Stadt bestochen, das Sicherheitssystem des Hotels analysiert, die örtlichen Führer und Fahrer kennengelernt und ihre Vergangenheit überprüfen lassen, digitalen Abhörschutz an den Funkgeräten des Simstim-Teams veranlasst, einen Krisenstab eingerichtet und seismische Sensoren um den von Sense/Net angemieteten Zimmerblock installiert.
    Er ging in die Hotelbar, einen ans Foyer angebauten Dschungelgarten, und setzte sich an einen der freien Glastische. Ein blasser Mann mit einem gebleichten weißen Haarschopf durchquerte die Bar, in jeder Hand einen Drink. Die blasse

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