Neuromancer-Trilogie
vielleicht zum zweiten Mal eine Linie zu überschreiten, eine kaum wahrnehmbare Grenzlinie des Glaubens, und zu der Erkenntnis zu gelangen, dass ihre Zeit mit den Loa ein Traum gewesen war oder dass es sich bei ihnen höchstens um virulente Schwingungsknoten kultureller Resonanz handelte, die sie von den Wochen in Beauvoirs Oumphor in New Jersey zurückbehalten hatte. Mit anderen Augen zu sehen: keine Götter, keine Reiter.
Sie ging weiter, getröstet vom Meeresrauschen, dem einen unablässigen Strandmoment, in dem das Jetzt das Immer war.
Ihr Vater war tot, seit sieben Jahren tot, und das Dossier über sein Leben hatte ihr nicht gerade viel über ihn verraten. Dass er jemandem oder etwas gedient hatte, dass sein Lohn Wissen und sie seine Opfergabe gewesen war. Manchmal kam
es ihr vor, als hätte sie drei Leben gehabt, die durch etwas Undefinierbares voneinander getrennt waren, ohne jede Hoffnung auf Ganzheit.
Da waren die kindlichen Erinnerungen an die Maas-Arcologie in der Kuppe eines mexikanischen Tafelbergs, wo sie sich, das Gesicht in den Wind gedreht, an einer Sandsteinbalustrade festgehalten und das Gefühl gehabt hatte, der ganze ausgehöhlte Tafelberg sei ihr Schiff, das sie ins Abendrot jenseits der Berge hinaussteuern könne. Später war sie von dort weggezogen, die Angst ein harter Klumpen in ihrer Kehle. Sie konnte sich nicht mehr an den letzten Blick auf das Gesicht ihres Vaters erinnern, obwohl es auf der Microlight-Plattform gewesen sein musste, wo die anderen Flieger wie eine Reihe regenbogenfarbener Nachtfalter gegen den Wind festgemacht waren. Ihr erstes Leben endete in jener Nacht; das Leben ihres Vaters auch.
Ihr zweites Leben war kurz gewesen, schnell und sehr seltsam. Ein Mann namens Turner hatte sie aus Arizona rausgeholt und bei Bobby und Beauvoir und den anderen gelassen. Sie erinnerte sich kaum mehr an Turner; sie wusste nur noch, dass er groß gewesen war, mit stählernen Muskeln und einem gehetzten Gesichtsausdruck. Er hatte sie nach New York gebracht. Dann hatte Beauvoir sie und Bobby nach New Jersey mitgenommen und sie dort in der zweiundfünfzigsten Etage einer Sozialarcologie über ihre Träume aufgeklärt. Die Träume seien echt, hatte er gesagt, wobei sein braunes Gesicht vor Schweiß glänzte. Er nannte ihr die Namen derjenigen, die sie in ihren Träumen gesehen hatte. Er lehrte sie, dass alle Träume aus einem gemeinsamen Meer schöpfen, und zeigte ihr, inwiefern sich die ihren von den anderen unterschieden und ihnen doch glichen. Du allein befährst das alte Meer und das neue, sagte er.
Sie wurde von Göttern geritten in New Jersey.
Sie lernte, sich den Reitern hinzugeben. Sie sah, wie der Loa Linglessou im Oumphor in Beauvoir hineinfuhr und wie dessen Füße die weißen Mehlmuster vermischten. In New Jersey lernte sie die Götter kennen – und die Liebe.
Die Loa hatten sie geleitet, als sie mit Bobby daranging, ihr jetziges drittes Leben aufzubauen. Sie passten gut zusammen, Angie und Bobby, weil sie beide aus einem Vakuum kamen: Angie aus dem sterilen, leeren Reich von Maas Biolabs und Bobby aus der Ödnis von Barrytown …
Grande Brigitte trat ohne Vorwarnung mit ihr in Berührung; Angie taumelte und wäre im seichten Wasser beinahe auf die Knie gefallen, als das Meeresrauschen in die dämmrige Landschaft hineingezogen wurde, die sich vor ihr auftat. Die weißgetünchten Friedhofsmauern, die Grabsteine, die Weiden. Die Kerzen. Unter der ältesten Weide eine Unzahl von Kerzen, die gewundenen Wurzeln weiß von Wachs.
Kind, erkenne mich.
Und Angie spürte sie mit einem Mal und erkannte sie als Mamman Brigitte, Mademoiselle Brigitte, die Älteste unter den Toten.
Ich habe keinen Kult, Kind, keinen besonderen Altar.
Sie merkte, dass sie auf den Kerzenschein zuging, ein Summen in den Ohren, als würde die Weide einen großen Bienenstock verbergen.
Mein Blut ist Rache.
Angie musste an Bermuda denken, die Nacht und den Hurrikan. Bobby und sie hatten sich ins Auge hinausgewagt. Grande Brigitte war genauso. Die Stille, der Druck, das Gefühl unvorstellbarer, momentan gebändigter Kräfte. Unter der Weide war nichts zu sehen. Nur die Kerzen.
»Die Loa … Ich kann sie nicht rufen. Ich habe etwas gespürt … und wollte nachsehen …«
Du wurdest zu meinem Reposoir gerufen. Hör mir zu. Dein Vater zog dir Vévés ins Gehirn: zog sie in ein Fleisch, das kein Fleisch war. Du warst Ezili Freda geweiht. Legba führte dich in Verfogung seiner eigenen Ziele in die Welt.
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