Neuromancer-Trilogie
Hilton.«
»Wiederhören, Angie.«
Nachts dann saß sie im Dunkeln auf der Terrasse und beobachtete den Tanz der Flöhe im hell erleuchteten Sand. Sie dachte an Brigitte und ihre Warnung, an die Droge in der Jacke und den Derm-Applikator im Arzneischrank. An den Cyberspace und die traurige Enge, die ihr der Ono-Sendai vermittelt hatte – ein himmelweiter Unterschied zur Freiheit der Loa.
Sie dachte an die Träume der anderen, an in sich selbst verschlungene Korridore, die gedeckten Farben uralter Teppiche … An einen alten Mann, einen Kopf aus Juwelen, ein angespanntes, blasses Gesicht mit Spiegeln als Augen … Und an einen windigen, dunklen Strand.
Nicht diesen Strand, nicht Malibu.
Und irgendwo in der Finsternis eines jungen kalifornischen Tages, in der Stunde vor Sonnenaufgang, inmitten der Korridore, der Galerien, der Traumgesichter, der halb vergessenen Gesprächsfetzen, riss sie etwas los und hievte es beim Erwachen durch die Wand des Schlafes herauf. Bleicher Nebel drückte gegen die Fenster des großen Schlafzimmers.
Sie rollte sich herum, kramte in einer Nachttischschublade, fand einen Porsche-Stift, ein Geschenk eines Kulissenschiebers, und bannte ihren Schatz auf die glänzende Rückseite eines italienischen Modemagazins:
T-A.
»Ruf Continuity an«, befahl sie dem Haus bei der dritten Tasse Kaffee.
»Hallo, Angie«, sagte Continuity.
»Diese Sequenz im Orbit, die wir vor zwei Jahren gemacht haben. Auf der Jacht dieses Belgiers.« Sie trank den lauwarmen Kaffee. »Wie hieß das Ding, wohin er mich mitnehmen wollte? Das Robin zu schäbig war?«
»Freeside«, gab das Expertensystem Auskunft.
»Wer hat dort schon mal gedreht?«
»Tally Isham hat in Freeside neun Sequenzen aufgenommen.«
»Und für sie war es nicht zu schäbig?«
»Das war vor fünfzehn Jahren. Da war Freeside noch groß in Mode.«
»Besorg mir die Sequenzen!«
»Schon geschehen.«
»Bye.«
»Bye, Angie.«
Continuity schrieb ein Buch. Robin Lanier hatte Angie davon erzählt. Sie hatte gefragt, wovon es handle. So sei das nicht, hatte er geantwortet. Es führe immer wieder in sich selbst zurück und mutiere andauernd; Continuity schreibe ständig daran. Warum, fragte Angie. Aber Robin hatte schon das Interesse daran verloren: weil Continuity ein KI war und KIs nun mal solche Sachen machten.
Ihr Anruf bei Continuity brachte ihr einen Anruf von Swift ein. »Angie, wegen der Untersuchung …«
»Hast du dafür noch keinen Termin gemacht? Ich will wieder arbeiten. Heute Morgen hab ich Continuity angerufen. Ich denke da an eine Orbit-Sequenz. Zieh mir gerade ein paar Sachen rein, die Tally gemacht hat. Bringt mich vielleicht auf Ideen.«
Schweigen. Sie hätte am liebsten gelacht. Es war nicht leicht, Swift sprachlos zu machen. »Ist das dein Ernst, Angie? Das ist ja wunderbar, aber willst du das wirklich tun?«
»Mir geht’s schon viel besser, Hilton. Richtig gut geht’s mir. Ich will arbeiten. Der Urlaub ist vorbei. Porphyre soll rauskommen und mir die Haare machen, bevor ich wieder unter die Leute gehe.«
»Weißt du, Angie«, sagte er, »das macht uns alle sehr glücklich.«
»Ruf Porphyre an. Mach den Arzttermin.« Coup-poudre. Wer, Hilton? Du vielleicht?
Er hatte die Mittel, dachte sie eine halbe Stunde später, als sie im dichten Nebel auf der Terrasse auf und ab ging. Ihre Sucht hatte Net nicht bedroht und ihre Leistung nicht beeinträchtigt. Es gab keine körperlichen Nebenwirkungen. Andernfalls hätte Sense/Net gar nicht zugelassen, dass sie damit anfing. Der Designer der Droge, dachte sie. Der Designer würde es wissen. Und es ihr garantiert nicht sagen, selbst wenn sie zu ihm vorstoßen konnte, was sie bezweifelte. Angenommen, dachte sie, die Hände aufs rostige Geländer gestützt, er war gar nicht der Designer gewesen? Angenommen, jemand anders hatte das Molekül entwickelt und seine eigenen Ziele damit verfolgt?
»Der Friseur«, sagte das Haus.
Sie ging hinein.
Porphyre wartete schon, in gedeckten Jersey gehüllt – irgendwelches Zeug, das in Paris gerade topaktuell war. Sein Gesicht, im Ruhezustand so glatt wie poliertes Ebenholz, verzog
sich zu einem entzückten Grinsen, als er sie sah. »Missy«, schimpfte er, »du siehst aus wie hausgemachte Scheiße.«
Sie lachte. Porphyre kam auf sie zu, schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge, sagte »na, na« und »also wirklich« und schnipste mit seinen langen Fingern in gespieltem Abscheu gegen ihren Pony. »Missy war kein braves Mädchen.
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