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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
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fälschlicherweise für einen weiteren Ventilator hielt. Auf dem Boden davor sah sie weiße Kerzenstummel, eine flache Plastikflasche mit einer klaren Flüssigkeit, diverse Zigarettenschachteln und etliche einzelne Zigaretten sowie eine kunstvolle, vielarmige Gestalt, die offenbar mit weißem Kreidepulver gezeichnet war.
    Sally trat vor, der Lichtstrahl blieb fest, und Kumiko sah, dass das gepanzerte Ding mit massiven Bolzen an der Backsteinmauer befestigt war. »Finne?«
    Ein kurzes Aufflackern pinkfarbenen Lichts in einem waagrechten Schlitz.
    »He, Finne, Mann …« Ein ungewohntes Stocken in ihrer Stimme.
    »Moll.« Knarrend wie aus einem kaputten Lautsprecher. »Was soll das mit der Lampe? Haste keine Verstärker mehr drin? Wirst wohl langsam alt und siehst nicht mehr so gut im Dunkeln.«
    »Ist wegen meiner Freundin.«
    Etwas bewegte sich hinter dem Schlitz, ungesund rot wie glühende Zigarettenasche in der Mittagssonne, und Kumikos Gesicht wurde in flackerndes Licht getaucht.
    »Ja«, knarrte die Stimme. »Wer ist sie?«
    »Yanakas Tochter.«
    »Tatsächlich?«
    Sally senkte das Licht; es fiel auf die Kerzen, die Flasche, die feuchten grauen Zigaretten, das weiße Symbol mit den spindeldürren Armen.
    »Bedient euch von den Gaben«, sagte die Stimme. »Ist’n halber Liter Moskovskaya. Das Hoodoo-Zeichen ist aus Mehl. Pech. Die Spendableren malen’s mit Kokain.«
    »Meine Güte«, sagte Sally merkwürdig zurückhaltend und hockte sich hin, »ich glaub’s einfach nicht.« Kumiko sah zu, wie sie die Flasche nahm und daran schnupperte.

    »Trink nur. Ist vom Feinsten. Will ich jedenfalls stark hoffen. Niemand bescheißt das Orakel, wenn er weiß, was gut für ihn ist.«
    »Finne«, sagte Sally, setzte dann die Flasche an, nahm einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, »du musst echt verrückt sein …«
    »Schön wär’s.’n bisschen Phantasie ist bei dem Ding hier schon das höchste der Gefühle. Von verrückt kann keine Rede sein.«
    Kumiko kam näher und hockte sich neben Sally.
    »Ist das’ne Konstruktion?’ne Persönlichkeitskonstruktion?« Sally stellte die Wodkaflasche weg und rührte mit der Spitze eines weißen Fingernagels im feuchten Mehl.
    »Klar. Ist doch nichts Neues für dich. Echtzeitgedächtnis, wenn ich will, Anschluss an den C-space, wenn ich will. Die Orakelnummer zieh ich nur ab, um am Ball zu bleiben, verstehste?« Das Ding gab ein komisches Geräusch von sich: Gelächter. »Liebeskummer?’n mieses Weibsstück, das dich nicht versteht?« Wieder das Lachgeräusch, ein perlendes atmosphärisches Rauschen. »Eigentlich mach ich mehr auf Unternehmensberatung. Die leckeren Sachen sind von Typen aus der Gegend. Macht das Ganze irgendwie mystischer. Und ab und zu kommt mal ein Skeptiker vorbei, irgend so’n Arsch, der meint, er kann sich hier einfach bedienen.« Ein knallroter, haarfeiner Lichtstrahl schoss aus dem Schlitz, und irgendwo rechts von Kumiko explodierte eine Flasche. Atmosphärisches Lachen. »Also, was führt dich hierher, Moll? Dich und« – wieder zuckte das pinkfarbene Licht über Kumikos Gesicht – »Yanakas Tochter.«
    »Der Straylight-Run«, sagte Sally.
    »Lange her, Moll.«
    »Sie ist hinter mir her, Finne. Vierzehn Jahre, und diese beknackte Schnepfe lässt mich immer noch nicht in Ruhe.«

    »Hat vielleicht nichts Besseres zu tun. Du weißt ja, wie die Reichen sind …«
    »Weißt du, wo Case ist, Finne? Vielleicht ist sie auch hinter ihm her.«
    »Case ist ausgestiegen. Hat nach eurer Trennung’n paar Volltreffer gelandet, dann Schluss gemacht und sich abgeseilt. Hätteste das auch getan, würdeste dir jetzt vielleicht nicht in’ner Gasse den Arsch abfrieren, stimmt’s? Das Letzte, was ich gehört hab, er hat vier Kinder …«
     
    Während Kumikos Blick dem hypnotisch hin und her pendelnden, pinkfarbenen Glutauge des Scanners folgte, ahnte sie, womit Sally da redete. Im Arbeitszimmer ihres Vaters gab es so ähnliche Dinger, vier schwarzlackierte Würfel auf einem niedrigen Kieferbord. Über jedem Würfel hing ein formelles Porträt. Die Porträts waren Schwarz-Weiß-Fotos von Männern in dunklem Anzug und Krawatte, vier sehr ernste Herren mit kleinen Metallabzeichen am Revers, wie Vater sie auch gelegentlich trug. Obwohl ihre Mutter ihr erklärt hatte, in den Würfeln seien Geister, die Geister von Vaters bösen Ahnen, empfand Kumiko weniger Angst als Faszination. Falls sie wirklich Geister enthielten, überlegte sie, dann nur ganz

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