Neuromancer-Trilogie
kleine; die Würfel waren nämlich kaum groß genug, um einen Kinderkopf aufzunehmen.
Ihr Vater meditierte manchmal vor den Würfeln, wobei er in einer Haltung, aus der tiefe Ehrfurcht sprach, auf der blanken Tatami kniete. Sie hatte ihn oft in dieser Haltung gesehen, aber erst, als sie zehn war, mit den Würfeln sprechen hören. Und einer hatte ihm geantwortet. Die Frage hatte ihr nichts gesagt, die Antwort noch weniger, aber der ruhige Tonfall des Geistes hatte sie hinter der papierenen Tür festgehalten, hinter der sie hockte. Ihr Vater hatte gelacht, als er sie dort fand; statt mit ihr zu schimpfen, hatte er ihr erklärt, dass die Würfel
die aufgezeichneten Persönlichkeiten ehemaliger Direktoren bargen. Ihre Seelen?, hatte sie gefragt. Nein, hatte er lächelnd gesagt und hinzugesetzt, dass es da einen feinen Unterschied gebe. »Sie haben kein Bewusstsein. Sie antworten, wenn sie gefragt werden, und zwar in einer Art, die in etwa der Antwort der betreffenden Person entspräche. Wenn so was ein Geist ist, dann ist ein Hologramm auch ein Geist.«
Nach Sallys Vortrag über die Geschichte und Hierarchie der Yakuza in der Robata-Bar in Earls Court war Kumiko zu dem Schluss gekommen, dass jeder der Männer auf den Fotos, deren Persönlichkeit man aufgezeichnet hatte, ein Oyabun gewesen war.
Das Ding in dem gepanzerten Gehäuse war so was Ähnliches, überlegte sie, ein bisschen aufwendiger vielleicht, genau wie Colin eine aufwendigere Version des Michelin-Führers war, den die Sekretäre ihres Vaters bei den Einkaufsbummeln in Shinjuku dabeigehabt hatten. Sally nannte es Finne, und es lag auf der Hand, dass dieser Finne ein früherer Freund oder Kollege von ihr war.
Ob es wohl auch wach war, fragte sich Kumiko, wenn die Gasse leer war? Ob seine Laseroptik das leise Rieseln des mitternächtlichen Schnees registrierte?
»Europa«, begann Sally. »Nach meiner Trennung von Case bin ich da überall rumgereist. Ich hatte’ne Menge Kohle, die wir für den Run kassiert hatten. Kam mir jedenfalls wie’ne Menge vor, damals. Tessier-Ashpools KI hatte über eine Schweizer Bank gezahlt und jeden Hinweis gelöscht, dass wir überhaupt den Schacht raufgekommen waren. Und ich meine, wirklich jeden; wenn jemand die Namen gesucht hätte, unter denen wir im JAL-Shuttle gebucht hatten, dann wären die einfach nicht mehr dagewesen. Case hat alles durchgecheckt, als wir wieder in Tokio waren. Er hat sich Zugang zu allen möglichen
Daten verschafft. Es war, als hätte nichts davon stattgefunden. War mir schleierhaft, wie sie das angestellt hat, KI hin oder her, aber eigentlich hat ja niemand so recht kapiert, was da oben gelaufen ist, als Case den chinesischen Eisbrecher durch ihr Kerneis gejagt hat.«
»Hat sie später noch mal versucht, Kontakt aufzunehmen?«
»Nicht dass ich wüsste. Case war der Meinung, sie wäre weg – nicht verschwunden, sondern im Ganzen, in der Matrix insgesamt aufgegangen. Quasi nicht mehr im Cyberspace, sondern der Cyberspace selbst . Und wenn sie nicht wollte, dass man sie sähe, dass man von ihrer Anwesenheit wüsste, dann hätte man keine Chance und auch keine Möglichkeit, es jemand anderm zu beweisen, selbst wenn man wüsste, dass sie da ist … Aber was mich angeht, ich wollt’s gar nicht wissen. Ich meine, was immer da oben gelaufen ist, für mich war der Fall erledigt, aus und vorbei. Armitage war tot, Riviera war tot, Ashpool war tot, der Rasta-Schlepperpilot, der uns rausgebracht hatte, war wieder in Zion und hatte das Ganze vermutlich als’nen Ganjatrip abgeschrieben. Ich hab Case im Tokyo Hyatt zurückgelassen und ihn nie wiedergesehen.«
»Warum?«
»Wer weiß? Einfach so. Ich war jung, ich hatte das Gefühl, es ist vorbei.«
»Aber die Frau haste am oberen Ende des Schachts zurückgelassen. In der Straylight.«
»Du sagst es. Und es ist mir immer wieder mal durch den Kopf gegangen. Als wir abgehauen sind, Finne, hatte ich den Eindruck, ihr wär das alles piepegal. Dass ich ihren geisteskranken Vater für sie umgebracht hatte und dass Case ihre Kerne geknackt und ihre KIs in der Matrix losgelassen hatte … Also hab ich sie auf die Liste gesetzt. Wenn du eines Tages mal richtig Ärger kriegst und irgendwer es auf dich abgesehen hat, dann schau auf die Liste.«
»Und du hast von Anfang an auf sie getippt?«
»Nee, ich hab’ne reichlich lange Liste.«
Case, der Kumiko mehr gewesen zu sein schien als nur Sallys Partner, kam im weiteren Verlauf ihrer Geschichte nicht mehr
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