Neuromancer-Trilogie
…«
»Als ich noch klein war, war ich weiß.«
»Oh.«
Er lachte. »Religionen, Missy?«
»Bevor ich zu Net kam, hatte ich Freunde. In New Jersey. Die waren schwarz und … religiös.«
Er grinste erneut süffisant und verdrehte die Augen. »Hoodoozeichen, Missy? Hühnerknochen und Minzöl?«
»Du weißt, dass es nicht so ist.«
»Ja, und?«
»Nimm mich nicht auf den Arm, Porphyre! Ich brauche dich.«
»Bin ja da, Missy. Und ja, ich weiß, was du meinst. Und das sind deine Stimmen?«
»Das waren sie. Als ich mit dem Dust angefangen habe, sind sie verschwunden.«
»Und jetzt?«
»Sind sie weg.« Doch der Impuls war mittlerweile verebbt, und sie scheute davor zurück, ihm von Grande Brigitte und der Droge in der Jacke zu erzählen.
»Gut«, sagte er. »Das ist gut, Missy.«
Der Lear begann über Ohio mit dem Sinkflug. Porphyre starrte an die Wand, reglos wie eine Statue. Angie schaute auf die Wolkenlandschaft unter ihnen hinaus, die sich ihnen entgegenhob, und dachte an das Spiel, das sie als Kind in Flugzeugen gespielt hatte, indem sie eine imaginäre Angie hinausschickte und sie durch Wolkenschluchten und über flaumige Gipfel tollen ließ, die auf magische Weise feste Gestalt angenommen hatten. Diese Flugzeuge hatten vermutlich Maas-Neotek gehört. Später war sie von den Maas-Jets in die Net-Lears umgestiegen. Verkehrsmaschinen kannte sie nur als
Drehorte für ihre Stims: von New York nach Paris auf dem Jungfernflug der restaurierten JAL-Concorde mit Robin und einer Gruppe von handverlesenen Net-Leuten.
Abwärts. Waren sie schon über New Jersey? Hörten die Kinder auf den Dachspielplätzen von Beauvoirs Arcologie die Turbinen des Lear? Spülte der Düsenlärm der vorbeifliegenden Maschine leise über die Wohnsilos aus Bobbys Kindheit hinweg? Wie unvorstellbar kompliziert die Welt doch allein schon bei den Details ihres Mechanismus war, wenn Sense/ Nets Firmenwille winzige Knöchelchen in den Ohren unbekannter, unwissender Kinder zum Vibrieren brachte …
»Porphyre weiß gewisse Dinge«, sagte er ganz leise. »Aber Porphyre braucht Zeit zum Nachdenken, Missy.«
Sie legten sich zum Landeanflug in die Kurve.
26
Kuromaku
Und Sally sagte kein Wort, weder auf der Straße noch im Taxi. Sie schwieg während des ganzen langen, kalten Rückwegs ins Hotel.
Sally und Swain wurden von Sallys Feindin »am oberen Ende des Schachts« erpresst. Sally wurde gezwungen, Angie Mitchell zu kidnappen. Der Gedanke, dass der Sense/Net-Star entführt werden sollte, kam Kumiko absolut unwirklich vor, als wollte jemand eine Figur aus der Mythologie ermorden.
Der Finne hatte angedeutet, dass Angie bereits auf geheimnisvolle Weise in die Sache verwickelt sei, aber er hatte Wörter und Redewendungen gebraucht, die Kumiko nicht verstand. Irgendetwas im Cyberspace; Leute, die mit einem Ding oder Dingen darin Pakte schlossen.
Der Finne hatte einen Jungen gekannt, der Angies Liebhaber geworden war; aber war Angie nicht mit Robin Lanier zusammen?
Kumikos Mutter hatte ihr erlaubt, einige Stims mit Angie und Robin anzuschauen. Der Junge war ein Cowboy gewesen, ein Datendieb wie Tick in London.
Und was war mit der Feindin, der Erpresserin? Dem Finnen zufolge war sie verrückt, und ihr Wahnsinn hatte den Niedergang des Familienbesitzes herbeigeführt. Sie lebte allein im Haus ihrer Vorfahren, das Straylight hieß. Womit hatte Sally sich ihre Feindschaft zugezogen? Hatte sie wirklich den Vater dieser Frau getötet? Und wer waren die anderen, die anderen, die gestorben waren? Schon hatte sie die Gaijin -Namen wieder vergessen …
Und hatte Sally durch ihren Besuch beim Finnen herausgefunden, was sie herausfinden wollte? Kumiko hatte zuletzt auf eine Weissagung aus dem gepanzerten Schrein gewartet, aber das Gespräch hatte mit Nichtigkeiten geendet, mit einem Gaijin-Ritual aus scherzhaften Abschiedsfloskeln.
Im Foyer des Hotels wartete Petal in einem blauen Velourssessel. Er trug Reisekleidung – ein dreiteiliger Anzug aus grauem Wollstoff umhüllte seinen massigen Leib – und erhob sich wie ein seltsamer Ballon aus dem Sessel, als sie hereinkamen. Die Augen hinter der Nickelbrille waren sanft wie immer.
»Hallo«, sagte er und hustete. »Swain hat mich euch nachgeschickt. Nur um auf das Mädchen aufzupassen.«
»Bring sie wieder zurück«, sagte Sally. »Jetzt gleich. Noch heute Abend.«
»Sally! Nein!« Aber Sally hatte sie schon am Arm gepackt und zog sie zum Eingang der abgedunkelten Lounge, die vom Foyer
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