Neuromancer-Trilogie
eben …«
Kumiko schnappte nach Luft, als sie auf eine chromgelbe Lichtfläche zuschoss.
»Kann einem schnell mal schwindelig werden hier drin«, sagte Tick und war im nächsten Moment neben ihr auf der gelben Fläche. Sie schaute auf seine Wildlederschuhe hinunter, dann auf ihre Hände. »So’n Körperbild ist da schon’ne Hilfe.«
»Aha«, sagte Colin, »der kleine Mann aus dem Rose and Crown. Hast an meinem Gerät rumgebastelt, was?«
Kumiko wandte sich um und sah ihn. Die Sohlen seiner braunen Stiefel schwebten zehn Zentimeter über dem Chromgelb. Sie stellte fest, dass es im Cyberspace keine Schatten gab.
»Wusste gar nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind«, meinte Tick.
»Keine Sorge«, sagte Colin, »wir sind einander nicht vorgestellt worden.« Er wandte sich an Kumiko. »Ich hoffe, du bist wohlbehalten ins bunte Brixton gelangt.«
»Du meine Güte«, sagte Tick, »was bist du denn für’n Schnösel?«
»Pardon«, sagte Colin grinsend, »aber ich soll ja schließlich die Erwartungen der Touristen widerspiegeln.«
»Du bist das, was sich irgend so ein japanischer Designer unter einem Engländer vorstellt!«
»In der U-Bahn waren Draculas«, sagte Kumiko. »Die haben mir die Tasche weggenommen. Dich wollten sie auch mitgehen lassen …«
»Du hast sozusagen’nen Sprung in der Schüssel, Kamerad«, erklärte Tick. »Hab dich jetzt in mein Deck eingesteckt.«
Colin grinste. »Danke.«
»Ich sag dir noch was.« Tick trat einen Schritt auf Colin zu. »Für das, was du sein sollst, hast du nicht die richtigen Daten drin.« Er kniff die Augen zusammen. »’n Kumpel von mir in Birmingham hat dich gerade gründlich durchleuchtet.« Er wandte sich an Kumiko. »Dein Mr. Chips hier ist manipuliert. Weißt du das?«
»Nein …«
»Um ganz ehrlich zu sein«, sagte Colin und warf die Stirnlocke zurück, »ich hab mir schon so was gedacht.«
Tick starrte in die Matrix, als lauschte er auf etwas, das Kumiko nicht hören konnte. »Ja«, sagte er dann, »obwohl es wahrscheinlich schon in der Fabrik gemacht worden ist. Zehn deiner großen Speicherblöcke sind total vereist.« Er lachte. »Du müsstest eigentlich so gut wie alles über Shakespeare wissen, oder?«
»Tut mir leid«, sagte Colin, »aber ich fürchte, ich weiß tatsächlich alles über Shakespeare.«
»Dann sag uns mal ein Sonett auf.« Ticks Gesicht verzog sich zu einem Zeitlupenzwinkern.
Ein Ausdruck von Bestürzung ging über Colins Gesicht. »Du hast Recht.«
»Oder was von Dickens!«, krähte Tick.
»Aber ich weiß wirklich …«
»Du glaubst es zu wissen, bis du nach Einzelheiten gefragt wirst. Sie haben die Teile, die mit englischer Literatur belegt sein müssten, leergelassen und mit was anderem vollgepackt …«
»Womit denn?«
»Keine Ahnung«, sagte Tick. »Der Typ in Birmingham kann’s nicht knacken. Er hat echt was drauf, aber du bist so’n verdammtes Maas-Biosoft …«
»Tick«, unterbrach Kumiko, »gibt es keine Möglichkeit, über die Matrix mit Sally Kontakt aufzunehmen?«
»Bezweifle ich, aber wir können’s versuchen. Jedenfalls kriegst du die Makroform zu sehen, von der ich dir erzählt habe. Soll uns Mr. Chips Gesellschaft leisten?«
»Ja, bitte.«
»Na schön«, sagte Tick und zögerte dann. »Aber wir wissen nicht, was die in deinen Freund reingepackt haben. Vermutlich irgendwas, wofür dein Vater gelöhnt hat.«
»Er hat Recht«, sagte Colin.
»Wir gehen alle zusammen«, beharrte sie.
Tick führte den Transit in Echtzeit durch, anstatt auf die körperlose, blitzschnelle Weise zu wechseln, in der man solche Übergänge in der Matrix normalerweise erledigte.
Die gelbe Fläche, so erklärte er, überdachte die Londoner Börse und verwandte Einrichtungen. Irgendwie generierte er eine Art Boot, das sie beförderte, eine blaue Abstraktion, die die Gefahr eines Schwindelanfalls reduzieren sollte. Als das Boot von der Börse davonglitt, schaute Kumiko sich um und sah den großen gelben Würfel zurückweichen. Tick wies wie ein Reiseführer auf verschiedene Gebilde hin. Colin, der mit übergeschlagenen Beinen neben ihr saß, schien der Rollentausch zu amüsieren. »Das ist White’s«, sagte Tick jetzt und machte
sie auf eine bescheidene graue Pyramide aufmerksam. »Der Club in Saint James. Mitgliederverzeichnis, Warteliste …«
Kumiko betrachtete die Architektur des Cyberspace und hörte dabei die Stimme ihres zweisprachigen französischen Hauslehrers in Tokio, der die Notwendigkeit dieses
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