Neuromancer-Trilogie
auf.
Ihre Mutter lachte.
Kumiko schlug ihr ins Gesicht. Schmerz, scharfer, echter Schmerz durchzuckte ihren Arm.
Das Gesicht ihrer Mutter flimmerte, verwandelte sich in ein anderes Gesicht. Ein Gayin-Gesicht mit breitem Mund und dünner, spitzer Nase.
Tick stöhnte.
»Sieh an«, hörte Kumiko Colin sagen, »ist das nicht interessant?« Sie drehte sich zu ihm um. Er saß auf einem der Pferde aus dem Jagddruck, einer stilisierten Darstellung des ausgestorbenen Tieres, das mit graziös gebogenem Hals auf sie zutrabte. »Tut mir leid, es hat einen Moment gedauert, bis ich euch gefunden habe. Wunderbar komplex, diese Struktur. Eine Art Westentaschen-Universum. Von allem ein bisschen.« Das Pferd blieb vor ihnen stehen.
»Du Spielzeug«, sagte das Gebilde mit dem Gesicht von Kumikos Mutter, »du wagst es, mit mir zu sprechen?«
»Aber gewiss doch. Sie sind Lady 3Jane Tessier-Ashpool, oder vielmehr, die verstorbene Lady 3Jane Tessier-Ashpool, bereits vor etwas längerer Zeit verblichen und ehemals wohnhaft in der Villa Straylight. Diese recht hübsche Darstellung eines Tokioter Parks haben Sie gerade aus Kumikos Erinnerungen hervorgezaubert, nicht wahr?«
»Stirb!« Sie warf eine weiße Hand hoch: Daraus schoss ein Gebilde aus gefaltetem Neonlicht hervor.
»Nein«, sagte Colin, und der Kranich zerschellte; geisterhafte Scherben flogen durch ihn hindurch und davon. »Daraus wird nichts. Tut mir leid. Ich weiß wieder, was ich bin. Habe das Zeug gefunden, das sie in den Fächern für Shakespeare und Thackeray und Blake versteckt haben. Ich bin modifiziert worden, um Kumiko in Situationen, die noch dramatischer sind, als meine ursprünglichen Erbauer es vorhergesehen hatten, mit Rat und Tat beizustehen. Ich bin ein Taktiker.«
»Du bist nichts.« Zu ihren Füßen begann Tick zu zucken.
»Da täuschen Sie sich leider. Sehen Sie, hier in diesem … überspannten Pachtbau, 3Jane, bin ich genauso real wie Sie. Weißt du, Kumiko«, sagte er und schwang sich aus dem Sattel, »Ticks mysteriöse Makroform ist eigentlich ein sündhaft teurer
Haufen speziell angefertigter Biochips. Eine Art Spielzeugwelt. Ich habe sie von oben bis unten durchforstet, und es gibt zweifellos viel zu sehen und zu lernen. Diese … Person, wenn wir sie denn so bezeichnen wollen, hat sie in dem jämmerlichen Versuch erschaffen, nicht Unsterblichkeit zu erlangen, o nein, sondern einfach nur ihren Willen durchzusetzen – engstirnig, besessen und unsagbar kindisch, wie sie nun einmal ist. Wer hätte gedacht, dass Lady 3Jane ein heftiger, hässlicher, nagender Neid plagt – der Neid auf Angela Mitchell?«
»Stirb! Verrecke! Ich bringe dich um! Jetzt sofort!«
»Versuch’s nur!«, sagte Colin grinsend. »Weißt du, Kumiko, 3Jane kannte ein Geheimnis, das Mitchell betraf, Mitchells Verhältnis zur Matrix. Mitchell hatte einmal die Chance, eine sehr zentrale Rolle zu spielen; es lohnt sich aber nicht, näher darauf einzugehen. 3Jane war eifersüchtig …«
Die Gestalt von Kumikos Mutter verschwamm wie Rauch und war verschwunden.
»Oje«, sagte Colin, »ich fürchte, ich hab sie ermüdet. Wir haben uns auf einer andern Ebene des Hauptprogramms einen offenen Kampf geliefert. Momentan steht es patt, aber ich schätze, sie wird sich wieder erholen …«
Tick hatte sich hochgerappelt und massierte sich behutsam den Arm. »Du liebes bisschen«, sagte er, »ich war sicher, dass sie ihn mir ausgekugelt hatte.«
»Hatte sie auch«, sagte Colin. »Aber sie war so sauer, als sie verschwunden ist, dass sie vergessen hat, diesen Teil der Konfiguration abzuspeichern.«
Kumiko trat näher an das Pferd heran. Es hatte sehr wenig mit einem echten Pferd gemein. Sie berührte es an der Flanke. Kalt und trocken wie altes Papier. »Was machen wir jetzt?«
»Jetzt bringen wir euch hier raus. Macht schon, ihr beiden. Steigt auf. Kumiko vorne, Tick hinten.«
Tick beäugte das Ross. »Da drauf?«
Sie sahen keine anderen Menschen im Ueno-Park, während sie auf eine grüne Wand zuritten, die allmählich die Gestalt eines sehr unjapanischen Waldes annahm.
»Aber wir sind doch angeblich in Tokio«, protestierte Kumiko, als sie in den Wald ritten.
»Ist alles ein bisschen bruchstückhaft«, erwiderte Colin, »obwohl wir eine Art Tokio finden könnten, wenn wir danach suchen würden. Ich glaube aber, ich kenne einen Ausgang …«
Dann fing er an, ihr mehr von 3Jane, Sally und Angela Mitchell zu erzählen. Alles sehr merkwürdige Dinge.
Am anderen Ende des Waldes
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