Neuromancer-Trilogie
Luftkissenschürze, glitten ab und schnappten von neuem zu. Die Schürze war mit Polykarbonatgeflecht verstärkt. Dann erinnerte sich Gentry an die Thermitlanze. Sie entzündete sich zu einem weißglühenden Feuerball, peitschte über die nutzlosen Klauen hinweg nach vorn und bohrte sich in die Luftkissenschürze wie ein Messer in Butter. Die Laufflächen drehten sich wie wild, als Gentry den Schergen mit voll ausgefahrener Lanze gegen die lecke Luftkissenschürze steuerte. Slick merkte plötzlich, dass er geschrien hatte, obwohl er nicht wusste, was. Er war jetzt auf den Beinen, als die Klauen endlich Halt an den Rändern des von der Lanze gerissenen Lecks fanden.
Er warf sich wieder zu Boden, als eine Gestalt mit Kapuze und Nachtsichtgerät wie eine bewaffnete Handpuppe aus einer Luke im Dach des Hovercraft schnellte und ein ganzes Magazin zwölfkalibriger Kugeln leerschoss. Sie prallten Funken schlagend von dem Schergen ab, der sich im pulsierenden Schein der weißglühenden Lanze weiter durch die Luftkissenschürze fraß. Dann erstarrte der Scherge, die Klauen in die ausgefranste Schürze verkrampft; der Schütze verschwand wieder in der Luke.
Die Stromzufuhr? Das Servo-Paket? Was hatte der Kerl getroffen? Die weiße Glut wurde schwächer, bis sie nahezu erloschen war.
Das Hover stieß langsam über den Rost zurück, den Schergen hinter sich herziehend.
Es war schon ein gutes Stück entfernt, außerhalb des Lichtkreises und nur noch sichtbar, weil es sich bewegte, als Gentry
die Schalterkombination entdeckte, die den Flammenwerfer aktivierte, dessen Düse unter dem Verbindungsstück der Klauen saß. Slick beobachtete gebannt, wie der Scherge ein Gemisch aus zehn Litern Benzin und waschaktiven Substanzen mit anhaltend hohem Druck versprühte und entzündete. Ihm fiel ein, dass die Düse von einem Pestizid-Traktor stammte.
Sie funktionierte tadellos.
36
Seelenfänger
Das Hover fuhr nach Süden, als Mamman Brigitte wiederkam. Die Frau mit den eingesetzten Silberaugen hatte die graue Limousine in einem anderen Parkhaus zurückgelassen, und das Straßenmädchen mit Angies Gesicht erzählte gerade eine wirre Story: von Cleveland, Florida, einem Kerl, der ihr Freund oder Zuhälter oder beides gewesen war …
Aber Angie hatte Brigittes Stimme schon in der Kabine des Hubschraubers auf dem Dach des New Suzuki Envoy gehört: Vertrau ihr, Kind! Ihr Tun entspricht dem Willen der Loa.
Mit ihrem Gurt, dessen Schnalle von einer festen Plastikmasse umschlossen war, an den Sitz gefesselt, hatte Angie verfolgt, wie die Frau am Computer des Helikopters vorbei ein Notsystem aktivierte, mit dem sich der Hubschrauber manuell fliegen ließ.
Und jetzt diese Autobahn im Winterregen und das Gerede des Mädchens, unterlegt vom monotonen Geräusch der Scheibenwischer …
Hinein in Kerzenschein, weißgetünchte Kalksteinmauern, bleiche Nachtfalter im hängenden Geäst der Weiden.
Deine Stunde naht.
Und da sind sie, die Reiter, die Loa: Pappa Legba, glänzend und fließend wie Quecksilber; Ezili Freda, Mutter und Königin; Samedi, der Baron Cimetière, Moos auf morschem Gebein; Similor; Madame Travaux; viele mehr … Sie erfüllen die Leere, die Grande Brigitte ist. Das Rauschen ihrer Stimmen ist das Brausen des Windes, das Plätschern des Wassers, das Summen des Bienenstocks.
Sie flimmern in Schlieren über dem Boden wie heiße Sommerluft über der Straße, und Angie hat es noch nie so erlebt, diese Schwere, dieses Gefühl des Fallens, dieses intensive Ausgeliefertsein …
Zu einem Ort, wo Legba spricht, mit einer Stimme wie eine Eisentrommel …
Er erzählt eine Geschichte.
In einer stürmischen Bilderflut zieht die Evolution der Maschinenintelligenz an Angie vorüber: Steinkreise, Uhren, dampfgetriebene Webstühle, ein klickender Messingwald aus Hemmungen und Sperrklinken, Vakuum in geblasenem Glas, elektrische Glut in haarfeinen Heizfäden, gewaltige Aufgebote von Röhren und Schaltern, Nachrichten entschlüsselnd, die andere Maschinen verschlüsselt haben … Die zerbrechlichen, kurzlebigen Röhren schrumpfen, werden zu Transistoren; Schaltkreise integrieren sich, verdichten sich in Silizium …
Silizium stößt an gewisse funktionale Grenzen …
Und sie ist wieder in Beckers Video, der Geschichte der Tessier-Ashpools, durchsetzt mit Träumen, die 3Janes Erinnerungen sind, und noch immer spricht er, Legba, und es ist alles eine einzige Geschichte, die in zahllosen Strängen einen gemeinsamen, verborgenen Kern
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