Neuromancer-Trilogie
Schnickschnack, all dem bizarren, überflüssigen Zeug, das sie durch den Schacht heraufgeschafft hatten, um ihr verschlungenes Nest damit auszustaffieren. Aber es war ein Wahnsinn, der ihm unverständlich blieb, im Gegensatz zu Armitages Wahnsinn, den er nun zu begreifen glaubte. Man musste einen Menschen nur weit genug verbiegen, erst in die eine Richtung, dann in die andere, immer hin und her, bis er zerbrach. Wie ein Stück Draht. Und das hatte die Geschichte mit Colonel Corto gemacht. Die Geschichte hatte die größte Sauerei bereits erledigt, als Wintermute ihn fand, ihn aus dem ganzen Schutt des Krieges herauspickte, in das flache, graue Feld seines Bewusstseins vordrang wie eine Wasserspinne, die über einen stehenden Teich gleitet, und die ersten Botschaften über den Monitor eines Spielzeug-Mikrocomputers im abgedunkelten Krankenzimmer seines französischen Asyls schickte. Wintermute hatte Armitage neu aufgebaut, und Cortos Erinnerungen an Screaming Fist waren die Basis gewesen. Von einem bestimmten Punkt an hatten Armitages »Erinnerungen« jedoch kaum noch etwas mit denen von Corto gemein gehabt. Case bezweifelte, dass Armitage sich an den Verrat erinnert hatte, an die abstürzenden, brennenden Nightwings … Armitage war sozusagen eine redigierte Version von Corto gewesen, und als der Stress ihrer Operation ein gewisses Ausmaß erreicht hatte, war der Armitage-Mechanismus zerbröckelt. Corto war wieder aufgetaucht, mit seinen Schuldgefühlen
und seiner Wut. Und jetzt war Corto-Armitage tot, ein frostiger kleiner Mond für Freeside.
Er dachte an die Toxinsäckchen. Der alte Ashpool war ebenfalls tot; Mollys mikroskopischer Pfeil in seinem Auge hatte ihn um die todsichere Überdosis gebracht, die er sich zusammengemixt hatte. Ashpools Tod warf noch mehr Rätsel auf; es war der Tod eines verrückten Königs. Und er hatte die Puppe umgebracht, die er seine Tochter nannte, die Puppe mit 3Janes Gesicht. Als Case nun mit Hilfe von Mollys sensorischem Input durch die Korridore von Straylight streifte, kam ihm der Gedanke, dass er jemanden wie Ashpool, jemand so Mächtigen, wie es Ashpool in seinen Augen immer gewesen war, nie als menschliches Wesen gesehen hatte.
Macht bedeutete in Cases Welt wirtschaftliche Macht. Die Zaibatsus, die multinationalen Konzerne, die den Lauf der menschlichen Geschichte bestimmten, hatten alte Barrieren überwunden. Wenn man sie als Organismen betrachtete, hatten sie eine Art von Unsterblichkeit erlangt. Man konnte eine Zaibatsu nicht töten, indem man ein Dutzend Manager in Schlüsselpositionen umbrachte; es standen schon andere bereit, die auf der Leiter nachrücken, die freigewordenen Posten einnehmen und sich Zugang zu den riesigen Speicherbanken der Firma, ihrem Gedächtnis, verschaffen würden. Aber Tessier-Ashpool war anders, und er spürte den Unterschied im Tod des Gründers.
T-A war ein Atavismus, ein Clan. Er erinnerte sich an das Durcheinander im Zimmer des alten Mannes, den allzu menschlichen Schmutz, die uralten Schallplatten in ihren Papphüllen mit den abgestoßenen Rücken. Der eine Fuß bloß, der andere im samtenen Pantoffel.
Die Braun zupfte an der Kapuze des Modern-Anzugs, und Molly wandte sich nach links durch einen weiteren Torbogen.
Wintermute und das Nest. Phobische Visionen von den brütenden Wespen, dem biologischen Maschinengewehr im Zeitraffer. Aber hatten die Zaibatsus oder die Yakuza nicht mehr Ähnlichkeit damit, waren sie nicht wie Bienenstöcke mit kybernetischem Gedächtnis, riesige Einzelorganismen mit einem DNS-Code aus Silizium? Wenn Straylight ein Abbild des Profils von Tessier-Ashpool war, dann war T-A genauso verrückt wie der alte Mann. Das gleiche Gewirr von Ängsten, der gleiche eigenartige Eindruck von Ziellosigkeit. »Wenn sie das geworden wären, was sie wollten …«, hörte er Molly in seiner Erinnerung sagen. Aber sie wurden es nicht, hatte Wintermute ihr erklärt.
Case war immer davon ausgegangen, dass die wahren Bosse, die Bonzen einer Branche, zugleich mehr und weniger als Menschen waren. Er hatte es bei den Leuten gesehen, die ihn in Memphis verstümmelt hatten, er hatte es in Night City an Wage beobachtet, der sich gern diesen Anschein gab, und es hatte ihm ermöglicht, sich mit Armitages Stumpfheit und Gefühllosigkeit abzufinden. Er hatte es immer als schrittweise, freiwillige Anpassung an die Maschine, das System, den Mutterorganismus betrachtet. Darin wurzelte auch die Coolheit der Straße, das Insidergehabe, das auf
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