Neuromancer-Trilogie
seine Worte mit Bedacht – »du hast mir mal gesagt, du wärst nur ein Teil von was anderem. Und später hast du gesagt, dich gäb’s nicht mehr, wenn der Run gut über die Bühne gegangen ist und Molly das Wort an der richtigen Stelle eingegeben hat.«
Der Finne nickte mit seinem stromlinienförmigen Schädel.
»Okay, mit wem haben wir’s also danach zu tun? Wenn Armitage tot ist und du nicht mehr da bist, wer verrät mir dann, wie ich diese Scheißtoxinsäckchen aus meinem Körper rauskriege? Wer holt Molly da wieder raus? Was genau wird denn dann aus uns, wenn wir dich von der Festverdrahtung losmachen?«
Der Finne zog einen hölzernen Zahnstocher aus der Tasche und musterte ihn kritisch wie ein Chirurg sein Skalpell. »Gute Frage«, sagte er schließlich. »Schon mal was vom Lachs gehört? Das ist so’n Fisch. Also, dieser Lachs, der steht unter dem Zwang , gegen den Strom zu schwimmen. Kapiert?«
»Nein«, sagte Case.
»Nun, ich stehe auch unter einem Zwang. Und ich weiß nicht, warum. Wenn ich dich in meine Überlegungen oder besser Spekulationen zu diesem Thema einweihen würde, dürfte das ein paarmal so lange dauern, wie du lebst. Denn ich habe viel darüber nachgedacht. Und ich weiß es trotzdem nicht. Doch wenn das hier vorbei ist und wir nichts falsch machen,
dann werd ich ein Teil von was Größerem. Was viel Größerem.« Der Finne sah auf und blickte sich in der Matrix um. »Aber die Teile von mir, die jetzt ich sind, werden bleiben. Und du wirst deinen Lohn bekommen.«
Case kämpfte den wahnwitzigen Drang nieder, sich näher an den Finnen heranzumanövrieren, die Finger um seinen Hals zu legen, knapp über dem schlampigen Knoten im rostbraunen Schal, und ihm die Daumen in den Kehlkopf zu treiben.
»Also, toi-toi-toi«, sagte der Finne. Er machte kehrt und marschierte, die Hände in den Taschen, über den grünen Bogen davon.
»He, du Arsch«, sagte die Flatline, als der Finne ein Dutzend Schritte zurückgelegt hatte. Die Gestalt blieb stehen und drehte sich halb um. »Was ist mit mir? Mit meinem Lohn?«
»Den sollst du kriegen«, sagte der Finne.
»Wovon redet ihr?« Case sah zu, wie der schmale Tweedrücken immer kleiner wurde.
»Ich will gelöscht werden«, erklärte die Konstruktion. »Hab ich dir doch schon gesagt, weißt du nicht mehr?«
Straylight erinnerte Case an die frühmorgendliche Leere der Einkaufszentren seiner Teenagerzeit, deren unbelebte Passagen vom jungen Tag in eine unruhige Stille getaucht wurden, in der man in dumpfer, angespannter Erwartung die Insektenschwärme an den vergitterten Lampen über den Eingängen verdunkelter Geschäfte beobachtete. Außerhalb der Sprawlgrenzen gelegen, wurden diese Orte nicht mehr vom funkensprühenden, vibrierenden Getriebe des heißen Kerns erreicht, in dem die Nacht zum Tag gemacht wurde. Die Atmosphäre dort vermittelte ihm das Gefühl, von den schlafenden Bürgern einer erwachenden Welt umgeben zu sein, die er nicht betreten oder kennenlernen wollte, deren stumpfe Betriebsamkeit
vorübergehend ruhte und die bald zum nichtigen, öden Einerlei ihrer immer gleichen Tage erwachen würde.
Molly war nun langsamer geworden, entweder weil sie wusste, dass sie sich dem Ziel näherte, oder aus Rücksicht auf ihr Bein. Der Schmerz bahnte sich allmählich wieder seinen gezackten Weg durchs Endorphin, und er wusste nicht recht, was das zu bedeuten hatte. Sie sagte nichts, sondern biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen. Unterwegs hatte sie vieles gesehen, was Case nicht verstand, doch seine Neugier war erloschen. Da war ein Raum voller Bücherregale gewesen; Millionen vergilbter Blätter, in Leinen oder Leder gebunden, Regale, die in regelmäßigen Abständen Schilder mit fortlaufenden Bezeichnungen aus Ziffern und Buchstaben trugen. Eine vollgestopfte Galerie, in der Cases Blick durch Mollys desinteressierte Augen auf eine gesprungene, staubige Glasplatte fiel; die Aufschrift auf dem Messingschildchen daran, die Molly automatisch überflog, lautete: »La mariée mise à nu par ses célibataires, même.« Als sie die Hand danach ausstreckte und das Ding berührte, klickten ihre falschen Nägel gegen die Lexan-Scheibe, mit der das gesprungene Glas beidseitig geschützt war. Dann der Eingang zu Tessier-Ashpools Kältezellen, wie es schien, Rundtüren aus schwarzem, chromgefasstem Glas.
Sie hatte niemanden mehr gesehen seit den beiden Afrikanern mit ihrer Karre, die für Case gewissermaßen eine
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