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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
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den Fingerspitzen durch Armitages Fernsehaugen hindurch und wandte sich dann der Case-Figur zu. Hier hatte Riviera – und Case war sofort klar gewesen, dass Riviera dahintersteckte – offenbar nichts gefunden, was einer Parodie würdig gewesen wäre. Die krumme Figur, die da stand, entsprach weitgehend dem, was er täglich im Spiegel sah. Mager, hochgezogene Schultern, ein unauffälliges Gesicht unter kurzem, dunklem Haar. Er hatte eine Rasur nötig, aber das war meistens der Fall.
    Molly trat zurück. Ihr Blick wanderte von einer Figur zur nächsten. Es war eine statische Darstellung; die einzige Bewegung war das Schwanken der schwarzen Bäume in Armitages eiskalten, sibirischen Augen.
    »Willst du uns damit was sagen, Peter?«, fragte sie leise. Dann machte sie einen Schritt nach vorn und trat gegen etwas zwischen den Füßen der Holo-Molly. Etwas Metallisches klirrte gegen die Wand, und die Figuren waren verschwunden. Sie bückte sich und hob einen kleinen Projektor auf. »Anscheinend kann er sich in die Dinger reinschalten und sie direkt programmieren«, sagte sie und warf den Projektor weg.
    Sie kam an der Quelle des gelben Lichts vorbei, einer altertümlichen Glühbirne, die in die Wand eingelassen und mit einem rundgebogenen, rostigen Gitter gesichert war. Die behelfsmäßige Lampe erinnerte Case irgendwie an seine Kindheit. Er musste an die Festungen denken, die er mit anderen Kindern auf Dächern und in überschwemmten Kellergeschossen gebaut hatte. Das Versteck eines reichen Kindes, dachte er. So was Urtümliches war teuer. Atmosphäre nannte man das.

    Molly passierte ein weiteres Dutzend Hologramme, bis sie den Eingang zu 3Janes Wohnung erreichte. Eins davon stellte das augenlose Ungetüm aus der Gasse hinter dem Gewürzbasar dar, wie es aus Rivieras verstümmeltem Körper hervorbrach. Einige andere waren Folterszenen: der Inquisitor stets ein Armeeoffizier, das Opfer immer eine junge Frau. Diese Szenen hatten die grausige Intensität von Rivieras Show im Vingtième Siècle, als wären sie im blauen Blitz des Orgasmus erstarrt. Molly sah weg, als sie daran vorbeiging.
    Das letzte war klein und trübe, als hätte Riviera es über eine nur ihm bekannte Distanz von Zeit und Erinnerung hinweg herbeigezerrt. Sie musste sich hinknien, um es zu betrachten. Es war aus der Perspektive eines kleinen Kindes projiziert. Keins der anderen Hologramme hatte einen Hintergrund gehabt; die Figuren, Uniformen und Folterwerkzeuge hatten alle frei im Raum gestanden. Dies hingegen war eine Szenerie.
    Ein dunkler Schuttberg erhob sich zum farblosen Himmel; hinter dem Wall ragten bleiche, halb zerschmolzene Hochhausskelette auf. Der Schuttberg war strukturiert wie ein Netz – rostige Stahlstangen, grazil geschwungen wie feine Schnüre, an denen noch riesige Betonbrocken klebten. Der Vordergrund glich einem ehemaligen Stadtplatz; da war eine stumpfe Erhebung, die an einen Brunnen erinnerte. An ihrem Fuß die Kinder und der Soldat, erstarrt. Das Tableau war zunächst verwirrend. Molly hatte es wohl richtig gedeutet, bevor Case es noch ganz erfasst hatte, denn er spürte, wie sie sich versteifte. Sie spuckte aus und stand wieder auf.
    Kinder. Verwahrlost, in Lumpen. Zähne, die wie Messer glitzerten. Wunden in den verzerrten Gesichtern. Der Soldat auf dem Rücken, das Gesicht zum Himmel, Mund und Kehle offen. Sie fraßen.
    »Bonn«, sagte sie, und ihre Stimme klang irgendwie sanft. »Und du bist das Produkt davon, nicht wahr, Peter? Aber das
musst du auch sein. Unsre 3Jane ist schon zu übersättigt, um irgend’nem kleinen Dieb die Hintertür aufzumachen. Deshalb hat Wintermute dich aufgestöbert. Der letzte und größte Kick, falls man auf so was steht. Der dämonische Liebhaber, Peter.« Sie erschauerte. »Aber du hast sie überredet, mich reinzulassen. Danke. Gleich feiern wir’ne Party.«
    Und dann ging sie davon, schlenderte trotz der Schmerzen geradezu beschwingt dahin und ließ Rivieras Kindheit hinter sich.
    Sie zog die Flechette aus dem Halfter, warf das Plastikmagazin aus und legte ein anderes ein. Sie hakte den Daumen in den Kragen des Modern-Anzugs und riss ihn mit einem Ruck bis zum Schritt auf; die Klinge am Daumen durchtrennte das zähe Polykarbonat wie morsche Seide. Sie befreite sich aus den Ärmeln und Beinen; die Fetzen wurden unsichtbar, als sie auf den dunklen falschen Sand fielen.
    In dem Moment hörte Case die Musik. Es war eine Musik, die er noch nie gehört hatte. Nur Bläser und Klavier.
    Der Eingang

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