Neuromancer
verwirrt. Mit geschlossenen Augen lag er da und versuchte, die verschiedenen Teile einer Story über einen gewissen Corto zu ordnen. Der
Hosaka hatte die spärlichen Daten gesichtet und zu einer Übersicht zu—
sammengestellt, die allerdings zahlreiche Lücken aufwies. Das Material
hatte zum Teil aus Druckwerken bestanden, die der Hosaka zügig - zu zü-
gig auf dem Bildschirm abrollte, so daß Case den Computer bitten mußte,
ihm den Text vorzulesen. Unter anderem gehörten auch Tonbandmit—
schnitte der Screaming Fist-Verhandlung dazu.
Willis Corto, Colonel, war durch eine blinde Stelle in der russischen Abwehr über Kirensk vorgedrungen. Die Transporter hatten mit Impulsbom—ben das Loch geschaffen, und Cortos Team hatte sich in Nightwing Micro—
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lights absetzen lassen. Die strammen Flügel hatten im Mondschein ge—
knattert, der sich silbern in den Flüssen Angara und Podhamennaya spiegelte - das letzte Licht, das Corto für fünfzehn Monate sehen sollte. Case versuchte sich vorzustellen, wie die Microlights hoch über der frostigen Steppe aus ihren Trägerkapseln sich entfalteten.
»Haben dich ganz schön schikaniert, Boß«, sagte Case, als Molly sich neben ihm herumwälzte.
Die Microlights waren unbewaffnet gewesen, abgetakelt, um das Gewicht eines Console Operators, eines Spezialdecks und eines Virusprogramms auszugleichen, das den Namen Mole IX trug und das erste echte Virus in der Geschichte der Kybernetik war. Corto und sein Team hatten
drei Jahre für dieses Unternehmen trainiert. Sie waren durch das Eis, bereit, Mole IX zu injizieren, als die EMPs losgingen. Die russischen Impuls-kanonen stürzten die Jockeys in elektronische Dunkelheit; die Nightwings waren geliefert, die Bordelektronik fiel aus.
Dann eröffneten die Laser das Feuer, holten infrarotgelenkt die fragilen, radar-transparenten Angriffsflugzeuge aus der Luft, und Corto und sein toter Console Operator fielen vom sibirischen Himmel. Fielen und fielen immer weiter...
Die Story wies Lücken auf, als Case Unterlagen über den Flug eines ge—
kaperten russischen Gunships sichtete, das sich nach Finnland absetzen
konnte. Um bei der Landung in einem Fichtenwald zerballert zu werden
von einem altertümlichen 20-Millimeter-Geschütz, bemannt von einem Re—
servistenkader beim morgendlichen Bereitschaftsdienst. Screaming Fist
endete für Corto am Stadtrand von Helsinki, wo finnische Sanitäter ihn
aus den Trümmern des Hubschraubers sägten. Der Krieg endete neun Tage
später, und Corto blind, beinlos und mit fast völlig fehlendem Unterkiefer - wurde in eine Militäranstalt in Utah verlegt. Der Kongreßbeauftragte brauchte fast elf Monate, um ihn dort zu finden. Er lauschte dem Tröpfeln dränierender Schläuche. In Washington und McLean waren bereits die Schauprozesse in Gang. Pentagon und CIA wurden balkanisiert, teilweise
demontiert, und ein Untersuchungsausschuß des Kongresses richtete sein
Augenmerk auf Screaming Fist. Reif für Watergate, bemerkte der Beauftragte gegenüber Corto.
Er brauche Augen, Beine und umfangreiche kosmetische Leistungen,
sagte der Beauftragte, aber das lasse sich arrangieren. Fall für Klempner, 83
fügte der Mann hinzu und drückte Cortos Schulter durch die feuchtge—
schwitzte Bettdecke.
Corto lauschte dem leisen, unaufhörlichen Tröpfeln. Er sagte, er wolle
so aussagen, wie er sei.
Nein, erklärte der Beauftragte, die Verhandlungen würden im Fernsehen
übertragen. Der Prozeß müsse den Wähler ansprechen. Der Beauftragte
hustete höflich.
Wiederhergestellt, neu ausgestattet und gründlich vorbereitet, legte
Corto dann Zeugnis ab. Seine Aussagen waren detailliert, ergreifend, klar und – größtenteils die Erfindung eines Kongreß-Klüngels, der ein begründetes Interesse daran hatte, bestimmte Teile der Infrastruktur des Pentagons zu bewahren. Corto durchschaute allmählich, daß seine Aussagen dazu dienten, die Karriere dreier Amtsträger zu retten, die für die Unterdrückung von Berichten über den Aufbau der EMP-Abwehr in Kirensk unmittelbar verantwortlich waren.
Nachdem er seine Rolle in den Prozessen gespielt hatte, war er in Washington nicht mehr erwünscht. In einem Restaurant an der M Street erläuterte der Beauftragte bei Spargel-Crepe das große Risiko, das man eingehe, wenn man mit den falschen Leuten rede. Corto rammte dem Mann die gestreckten Finger seiner Rechten in den Kehlkopf. Würgend klatschte
der Kongreßbeauftragte mit dem Gesicht aufs
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