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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Armenier widmete
    sich wieder dem Zwiegespräch, das er mit seinem Sanyo führte.
    »Demerol hieß das früher«, sagte der Finne. »Er ist ein Speed-User. Komische Leute, mit denen du Umgang hast, Case.«
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    »Keine Sorge«, sagte Case und stellte den Kragen seiner Jacke hoch, »wir
    beschaffen dem armen Schwein 'ne neue Bauchspeicheldrüse oder so.«
    Sobald sie den Basar betreten hatten, wurde der Finne merklich froher,
    als fühlte er sich in dem dichten Menschengewühl und der Enge geborgen.
    Sie gingen mit dem Armenier durch eine breite Straße unter schmutzigen
    Plastikplanen und grünlackiertem Schmiedeeisen aus dem Dampfzeitalter.
    Tausend Leuchtreklamen flackerten.
    »Herrgott«, sagte der Finne Und nahm Case beim Arm, »guck mal, da!«
    Er deutete. »Ein Pferd, Mann! Haste schon mal ein Pferd gesehn?«
    Case betrachtete das präparierte Pferd und schüttelte den Kopf. Es war
    postiert auf einer Art Podest beim Eingang zu einem Tierhändler, der Vö-
    gel und Affen feilbot. Die Beine des Pferds waren von den vielen Berührungen der Passanten im Laufe der Jahrzehnte schwarz und haarlos geworden. »Hab mal eins in Maryland gesehn«, sagte der Finne, »und das war gut drei Jahre nach der pandemischen Krankheit. Es gibt immer noch Araber, die versuchen, Pferde aus der DNS zu konstruieren, was nicht klappt.«
    Die braunen Glasaugen des Pferdes folgten ihnen scheinbar, als sie wei—
    tergingen. Terzibashjian führte sie in ein Café im Zentrum des Basars, einen niedrigen Raum, der seit Jahrhunderten in Benutzung zu sein schien.
    Dürre Knäblein in besudelten weißen Jacken hasteten durch die überfüllten Tischreihen und balancierten auf blechernen Tabletts Flaschen mit tür-kischem Tuborg und winzige Teegläser.
    Case kaufte am Stand bei der Tür eine Schachtel Yeheyuan. Der Armenier brummte etwas in seinen Sanyo.
    »Komm«, sagte er, »er ist unterwegs. Jede Nacht fährt er durch den Tunel zum Basar und kauft bei Ali seine Mischung. Deine Freundin ist in der Nähe. Komm!«
    Die Gasse war alt, zu alt. Aus behauenem, dunklem Stein waren die
    Mauern. Das holprige Pflaster stank nach dem ausgelaufenen, im alten
    Kalkstein festgesetzten Benzin von hundert Jahren. »Kann rein gar nichts
    sehn«, flüsterte Case dem Finnen zu. »Schon okay für unser Schätzchen«,
    sagte der Finne. »Leise«, sagte Terzibashjian zu laut, Holz knarrte auf Stein oder Beton. Zehn Meter weiter unten in der Gasse fiel ein gelber Lichtkeil 91
    aufs nasse Pflaster, wurde breiter. Jemand trat heraus, und die Tür ging
    knarzend zu. Es wurde wieder dunkel in der engen Gasse. Case schauderte.
    »Jetzt«, sagte Terzibashjian, und ein greller, scharf abgegrenzter Lichtkegel fiel vom Dach des gegenüberliegenden Gebäudes auf die schlanke Gestalt vor der alten Holztür. Funkelnde Augen rollten hin und her, der Mann sackte zusammen. Case glaubte, es hätte jemand ihn geschossen; er lag mit dem Gesicht nach unten, das blonde Haar stach bleich vom alten Pflaster ab, die schlaffen Hände wirkten blaß und pathetisch. Das Flutlicht blieb standhaft.
    Am Rücken des Gestürzten wölbte sich der Jackett-Stoff auf, zerplatzte;
    Blut spritzte auf Wand und Tür. Zwei unwahrscheinlich lange, sehnige
    Arme streckten sich pink-grau im grellen Licht aus. Das Gebilde schien
    sich selber hochzuziehen vom Pflaster, durch den leblosen, blutbesudel—
    ten, entstellten Riviera hindurch. Es war zwei Meter hoch, stand auf zwei Beinen und hatte anscheinend keinen Kopf. Langsam wandte es sich um, ihnen zu, und Case sah, daß es doch einen Kopf, aber keinen Hals hatte. Es fehlten ihm Augen, die Haut schimmerte rosig-schleimig wie Gedärme.
    Der Mund, falls überhaupt ein Mund, war rund, konisch, flach; es reihten
    sich darum bebende Haar-oder Borstenbüschel, die wie schwarzes Chrom
    funkelten. Das Gebilde stieß den kläglichen Haufen aus Kleidung und
    Fleisch zur Seite und trat einen Schritt vor. Der Mund schien es auf sie abgesehen zu haben.
    Terzibashjian sagte etwas in Griechisch oder Türkisch und warf sich gegen das Gebilde, die Arme abgewinkelt, als wollte er durch ein Fenster hechten. Er rannte hindurch. In das Mündungsfeuer einer Pistole im Dunkeln hinter dem Lichtkegel. Steinsplitter flogen Case um die Ohren; der Finne zog ihn in die Hocke.
    Der Scheinwerfer auf dem Dach ging aus. Nachbilder vom Mündungsfeuer, Monster und gleißenden Licht schwirrten durch seinen Kopf. Seine Ohren dröhnten.
    Dann ging der Scheinwerfer wieder an, wanderte ruckweise und

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