Neuromancer
mit verblaß-
ten braunen Streifen. Eine Glühbirne baumelte an einem verzwirbelten,
schwarzen Kabel über dem Bett. Case bemerkte eine dicke Staubschicht
auf der oberen Rundung der Birne. Riviera öffnete die Augen.
»Ich bin immer allein im Zimmer gewesen.« Er setzte sich, dem Bett zu—
gewandt, auf den Stuhl. Die blauen Kohlen glühten noch in der schwarzen
Blüte am Revers. »Ich weiß nicht mehr, wann ich angefangen habe, von ihr
zu träumen«, sagte er, »erinnere mich aber, daß sie zunächst nur ein unscheinbarer Schatten gewesen ist.«
Auf dem Bett eine Bewegung. Case blinzelte. Weg.
»Ich konnte sie nicht halten, halten in meinen Gedanken. Aber ich wollte
sie halten, halten und mehr...« Seine Stimme war deutlich hörbar im stillen Restaurant. Eis klirrte in einem Glas. Jemand kicherte. Jemand anders flü-
sterte auf Japanisch eine Frage. »Wenn ich einen Teil von ihr sichtbar machen könnte, überlegte ich, nur einen winzigen Teil, wenn ich den deutlich sehen könnte, in brillanter Schärfe...«
Eine nach oben gekehrte Frauenhand lag nun auf der Matratze. Die Finger waren bleich.
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Riviera beugte sich vor, hob die Hand auf und streichelte sie sachte. Die Finger bewegten sich. Riviera führte die Hand an seinen Mund und leckte die Fingerkuppen. Die Nägel waren burgunderrot lackiert.
Eine Hand sah Case, aber keine abgehackte Hand; die Haut endete unversehrt, narbenlos, fließend. Es fiel ihm das tätowierte, rautenförmige Stück laborerzeugten Fleisches ein, das er im Schaufenster einer chirurgischen Boutique von Ninsei gesehen hatte. Riviera hielt die Hand an seine Lippen und leckte den Ballen. Die Finger kraulten zaghaft sein Gesicht.
Aber jetzt lag eine zweite Hand auf dem Bett. Als Riviera danach griff, um-hielten die Finger der ersten sein Handgelenk umschlossen wie ein Reif aus Haut und Knochen.
Die Vorstellung lief mit einer eigenen, surrealistischen Logik ab. Es folgten die Arme. Füße. Beine. Schöne Beine waren es. Case brummte der Schädel. Seine Kehle war trocken. Er trank den Wein aus.
Riviera war nun im Bett, nackt. Seine Kleidung war Bestandteil der Projektion gewesen, doch hatte Case seines Wissens nicht beobachtet, wie sie verschwand. Die schwarze Blume lag am Fußende des Bettes, nach wie
vor von innen blau glimmend. Dann bildete sich der Rumpf, dem Riviera
mit seinen Liebkosungen Gestalt verlieh: weiß, kopflos und vollkommen,
mit einem Hauch von schimmerndem Schweiß.
Mollys Körper. Case sperrte den Mund auf. Und doch war's nicht Molly;
es war Molly, wie Riviera sie sich vorstellte. Der Busen stimmte nicht, die Brustwarzen waren größer, zu dunkel. Riviera und der gliederlose Torso wälzten sich auf dem Bett, umfangen von den Händen mit den leuchtenden Nägeln. Das Bett war nun mit vergilbter, brüchiger Spitze bedeckt, die tiefe Falten warf und beim Berühren zerriß. Staub tanzte um Riviera und die zuckenden Glieder, die huschenden, kneifenden, kosenden Hände.
Case blickte zu Molly. Ihr Gesicht war ausdruckslos; die Farben von Rivieras Projektion zuckten in ihren Linsen. Armitage saß vornübergebeugt da, die Hände am Weinglasstiel, die hellen Augen auf die Bühne, den
dämmrigen Raum fixiert.
Nun waren Glieder und Torso miteinander verschmolzen, und Riviera
schauderte. Der Kopf war dran, das Bild komplett. Es war Mollys Gesicht
mit glatten Quecksilberaugen. Riviera und das Molly-Gebilde begannen,
mit neu entfachter Heftigkeit zu kopulieren. Dann streckte das Gebilde
langsam die Hand aus und entblößte ihre fünf Klingen. Mit wohliger, träu—
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merischer Bedachtsamkeit schlitzte sie Rivieras Rücken auf. Case sah kurz die freigelegten Wirbel, aber schon war er aufgesprungen und zur Tür ge—taumelt.
Er kotzte über ein Rosenholzgeländer in den stillen See. Das Gefühl,
sein Kopf sei in einen Schraubstock gespannt, verschwand. Kniend und die
Wange ans kühle Holz gepreßt, blickte er über den seichten See zum Lich—
termeer der Rue Jules Verne.
Case kannte das Medium-Phänomen; als er noch ein Teenager war, wurde es im Sprawl »Realtraum« genannt. Er erinnerte sich an schmächtige Puertoricaner, die im East Side unter Straßenlaternen zu fetzigem Salsa—Sound realträumten: Traummädchen drehten und schüttelten sich zur Musik, und die Zuschauer klatschten dazu. Freilich war dafür ein ganzer Last-wagen voller Gerät und ein unhandlicher Elektrodenhelm erforderlich gewesen.
Was Riviera träumte, das kam rüber. Case schüttelte
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