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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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ungestüm, vervielfachte sich zum Quadrat im
    Gefolge des Betaphenetylaminstoßes, strömte herein wie eine Trägerwel—
    le, ein seismischer Fluß, üppig und zersetzend. Seine Erektion war eine
    Stange aus Blei. Die Gesichter ringsum im Emergency waren bemalte Pup—
    penfratzen; die rot-weißen Münder gingen auf und zu, auf und zu; die Silben kamen hervor wie verschwiegene Sprechblasen. Er blickte zu Cath und sah jede Pore ihrer gebräunten Haut, Augen, flach wie stumpfes Glas,
    den Farbton von totem Metall, ein gewisses Aufgedunsensein, die kleinste
    Asymmetrie an Busen und Schlüsselbein, die... Etwas Grelles zuckte hinter seinen Augen auf. Er ließ ihre Hand los und taumelte zur Tür, stieß jemand zur Seite.
    »Leck mich!« schrie sie ihm hinterher, »du abgerückter Scheißtyp!«
    Er spürte seine Beine nicht. Er benutzte sie wie Stelzen, torkelte irre
    über das Kopfsteinpflaster der Rue Jules Verne. Ein fernes Rauschen in den Ohren; das eigene Blut. Messerscharfes Licht zersägte seinen Schädel aus einem Dutzend verschiedener Winkel.
    Und dann erstarrte er - aufrecht, die Fäuste an die Oberschenkel gepreßt, den Kopf zurückgeworfen, die Lippen gespitzt, zitternd. Beobachtete dabei die Tierkreiszeichen des Verlierers, die Nightclub-Konstellationen am Hologrammhimmel, die wanderten, zerflossen, über die dunkle Achse hinabglitten, um wie Geschmeiß im toten Zentrum der Realität aus—zuschwärmen. Bis sie sich formiert hatten, zu Hunderten zusammenge—
    strömt waren und ein riesiges, simples Porträt darstellten, ein letztes,
    monochromes Gemälde in Punktiermanier aus den Sternen des Nachthim—
    mels. Das Gesicht von Miss Linda Lee.
    Als er die Augen davon losreißen, den Blick senken konnte, stellte er
    fest, daß alle anderen Gesichter in der Straße nach oben gerichtet waren
    und die flanierenden Touristen verzückt staunten. Und als die Lichter am
    Himmel erloschen, schallte vielstimmiger Jubel aus der Rue Jules Verne
    empor und hallte wider von den Terrassen und Baikonen aus mondfahlem
    Beton.
    Irgendwo begann eine Uhr zu schlagen, eine altertümliche Glocke aus
    Europa.
150
    Mitternacht.
    Er ging bis zum Morgen.
    Der Rausch verebbte, das verchromte Skelett korrodierte mit jeder
    Stunde dahin, das von der Droge zerlaugte Fleisch wurde wieder fest und
    lebendig. Er konnte nicht denken. Bei Bewußtsein zu sein, aber nicht denken zu können, das gefiel ihm sehr. Anscheinend wurde er zu jedem Gegenstand, den er sah: zur Parkbank, zum weißen Mückenschwarm an einer antiken Straßenlaterne, zum Gartenroboter mit seinen schwarz-gelben
    Querstreifen.
    Ein aufgezeichnetes Morgengrauen kroch rosarot und düster über das
    Lado-Acheson-System herauf. Er zwang sich, in einem Cafe an der Desiderata ein Omelett zu essen, einen Schluck Wasser zu trinken und seine letz-te Zigarette zu rauchen. Auf der Dachwiese des Intercontinental herrschte schon Betrieb, als er sie durchquerte. Die ersten Frühstücksgäste stürzten sich unter gestreiften Sonnenschirmen auf Kaffee und Croissants.
    Er hatte seinen Zorn noch. Es war, wie wenn man in einer Gasse überfal—
    len wird und beim Aufwachen feststellt, daß die unangetastete Briefta—
    sche noch in der Jacke steckt. Er wärmte sich daran, auch wenn er keinen
    Namen oder Sinn dafür fand.
    Er fuhr mit dem Aufzug in seine Etage und kramte in seiner Tasche nach
    dem Freeside-Chip, der ihm auch als Schlüssel diente. Allmählich war wieder an Schlafen zu denken. Eine gute Idee. Sich auf dem sandfarbenen Temperschaum ausstrecken und wieder in die Leere eintauchen.
    Sie erwarteten ihn schon. Zu dritt waren sie. Ihre makellose, weiße
    Sportkleidung und ihre schablonierte Bräune hoben sich kraß von der
    handgemachten, organischen Schönheit der Einrichtung ab. Das Mädchen
    saß auf einem Korbsofa, eine automatische Pistole neben sich auf dem
    Blattmuster des Polsters.
    »Turing«, sagte sie. »Du bist Verhaftet.«
151

VIERTER TEIL
    Die

Villa Straylight
13
    »Du heißt Henry Dorsett Case.« Sie nannte sein Geburtsdatum, seinen
    Geburtsort und seine BAMA-Personennummer und zählte eine Reihe von
    Namen auf, die er allmählich als Decknamen aus seiner Vergangenheit wie—dererkannte.
    »Schon 'ne Weile hier?« Er sah, daß der Inhalt seiner Tasche auf dem
    Bett ausgestreut war: ungewaschene Kleidung, nach Typ sortiert. Das Shuriken lag gesondert zwischen Jeans und Unterwäsche auf dem sandfarbenen Temperschaum.
    »Wo ist Kolodny?« Die beiden Männer saßen Seite an

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