Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
Vom Netzwerk:
nicht. Ich will meinen
    Arsch hier in einem Stück rauskriegen.«
    »Du bist ein rüdes Ding. Selbstmord wird hier mit gewissem Anstand ze—lebriert. Das ist's, was ich tue, verstehst du? Aber vielleicht nehm ich dich heut' nacht mit in die Hölle... Eine wahrlich ägyptische Tat von mir.«
    Er trank wieder. »Komm schon her!« Er hielt ihr mit zitternder Hand die Flasche entgegen. »Trink!«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ist nicht vergiftet«, meinte er, aber stellte den Brandy auf den Tisch zu-rück. »Setz dich! Setz dich auf den Boden! Wir plaudern ein bißchen.«
    »Über was?« Sie setzte sich. Case spürte, wie die Klingen sich unmerklich unter den Nägeln regten.
    »Was uns so einfällt. Mir einfällt. Das ist mein Fest. Der Kern hat mich geweckt. Vor zwanzig Stunden. Sei etwas im Gange, sagten sie, und ich
    177
    werde gebraucht. Warst du dieses Etwas, Molly? Sicher hätten sie mich
    nicht gebraucht, um mit dir fertig zu werden. Nein, was anderes... Ich habe geträumt, weißt du? Vierzig Jahre lang. Du warst noch nicht geboren, als ich mich das letzte Mal zur Ruhe legte. Sie sagten uns, wir würden nicht träumen in der Kälte. Sie sagten uns auch, wir würden die Kälte nicht spüren. Unsinn, Molly. Lügen. Natürlich habe ich geträumt. Die Kälte ließ das Draußen herein, das ist's. Das Draußen. Die ganze Nacht baute ich dies, um uns dahinter zu verschanzen. Nur ein Tropfen zunächst ein Körnchen Nacht schlich sich ein, von der Kälte angelockt... Bald folgten mehr, erfüllten meinen Kopf, wie der Regen ein leeres Becken füllt. Kallalilien.
    Ich erinnere mich. Die Becken waren aus Terrakotta, die Wassernixen aus Chrom. Wie schimmerten ihre Glieder bei Sonnenuntergang im Garten
    auf... Ich bin alt, Molly. Über zweihundert Jahre alt, wenn man die Kälte mitrechnet. Die Kälte.« Plötzlich riß er die Pistole hoch, zitterte. Die Sehnen in ihren Oberschenkeln waren wie Drahtseile gespannt.
    »Man kann Frostbrand bekommen«, bemerkte sie vorsichtig.
    »Da brennt nichts«, sagte er ungeduldig und senkte die Waffe. Seine
    spärlichen Bewegungen wurden zusehends sklerotisch. Sein Kopf nickte.
    Es kostete ihm Mühe, das zu unterbinden. »Nichts brennt. Ich weiß es
    jetzt. Der Kern sagte mir, unsre Intelligenzen spielen verrückt. Die vielen Milliarden, die wir damals investierten. Als Künstliche Intelligenz noch ein eher gewagtes Unterfangen war. Ich sagte dem Kern, ich kümmere mich darum. Schlechtes Timing, wirklich. 8Jean ist grade drunten in Melbourne, und nur unsre süße 3Jane schmeißt hier den Laden. Oder auch sehr gutes Timing. Was meinst du Molly?« Wieder ging die Pistole hoch. »Merkwürdiges tut sich in der Villa Straylight.«
    »Boß«, sagte sie, »kennst du Wintermute?«
    »Ein Name, ja. Ein Name, der vielleicht Wunder wirkt. Ein Höllenfürst, ganz bestimmt. Zu meiner Zeit, liebe Molly, habe ich viele Fürsten gekannt. Und nicht wenige Ladies. Tja, sogar eine spanische Königin lag einmal in diesem Bett... Aber ich schweife ab.« Er hustete feucht und krampfhaft, wobei die Pistolenmündung zuckte. Er spuckte auf den Teppich neben seinen bloßen Fuß. »Und wie ich abschweife. In der Kälte. Aber bald ist Schluß damit. Ich ließ eine Jane auftauen, als ich aufwachte. Seltsam, alle paar Jahrzehnte bei der Frau zu liegen, die in rechtlichem Sinn die eigene Tochter ist.« Sein Blick wanderte über sie hinweg zum Gestell mit den lee-178
    ren Monitoren. Er schien zu frösteln. »Die Augen von Marie-France«, sagte er schwach und lächelte. »Wir verursachen, daß das Gehirn allergisch auf bestimmte eigene Neurotransmitter reagiert, was eine besonders beeinflußbare Form krankhafter Ichbezogenheit erzeugt.« Sein Kopf kippte zur Seite, ging wieder hoch. »Ich habe mir sagen lassen, heutzutage ist das mit einem eingepflanzten Mikrochip leichter zu bewerkstelligen.«
    Die Pistole glitt ihm aus der Hand, plumpste auf den Teppich.
    »Die Träume wachsen langsam wie Eis«, sagte er. Sein Gesicht hatte einen Stich ins Blaue bekommen. Sein Kopf sank aufs wartende Leder zurück, und er fing zu schnarchen an.
    Auf, die Knarre packen. Ashpools Automatik in der Hand, ging sie
    durchs Zimmer.
    Eine riesige Steppdecke lag neben dem Bett in einer breiten Lache ge—
    ronnenen Bluts, das dick auf den gemusterten Teppichen glänzte. Als sie einen Zipfel der Decke zurückschlug, entdeckte sie ein Mädchen, dessen weiße Schulterblätter mit Blut besudelt waren. Der Hals war aufgeschlitzt.
    Die dreieckige Klinge

Weitere Kostenlose Bücher