Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Härchen auf den Armen und im Nacken zu Berge stehen. Der Kapitän sagte die Wahrheit. Der Mann in dem Boot stand au f recht und still, aber er hielt die gespreizten Hände über sein kleines Segel, als lenke er irgendetwas in seine Ric h tung. Wie jeden Abend wehte eine sanfte Brise über den Fluss. Aber der Wind, den der Flachlandmagier auf sein Segel lenkte, war stärker als die sanfte Brise, die kaum zu spüren war. Er blähte das Segel und schob das Boot gleichmäßig stromaufwärts. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und einen Moment lang verspürte ich blanken Neid. Der einsame Mann in seinem Boot, dessen Silho u ette sich scharf gegen die untergehende Sonne abhob, bot einen so friedlichen und zugleich so machtvollen A n blick, dass ich fühlte, wie er mir tief in die Seele sank. Ohne sichtbare Anstrengung, eins mit seiner Magie, dem Wind und dem Strom zog sein kleines Boot anmutig im Zwielicht an uns vorbei. Ich wusste, dass ich dieses Bild bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen würde. Als er uns passierte, hob einer unserer Matrosen die Hand zum Gruße, und der Windhexer erwiderte den Gruß mit einem Nicken.
Plötzlich zerriss ein peitschender Gewehrschuss die abendliche Stille. Er kam von hinten, vom oberen Deck. Eisenschrotkörner zerfetzten das kleine Segel des Win d hexers. Noch während mir die Ohren von dem Knall klingelten, sah ich, wie das kleine Boot sich zur Seite neigte und der Mann ins Wasser fiel. Einen Moment sp ä ter zog eine nach Schwefel riechende Wolke an mir vo r bei, die mich zum Husten brachte und mir die Tränen in die Augen trieb. Die wütenden Schreie des Kapitäns und das raue Lachen vom Oberdeck drangen durch das Kli n geln meiner Ohren kaum zu mir durch. Die beiden ju n gen Edelleute standen auf dem Oberdeck, die Arme ei n ander über die Schulter gelegt, und schütteten sich aus vor trunkenem Lachen über ihren Streich. Ich schaute zurück zum Boot des Windhexers, sah aber dort, wo eben noch sein Boot gewesen war, nichts als Schwärze und Wasser.
Entsetzt wandte ich mich meinem Vater zu. »Sie h a ben ihn ermordet!«
Kapitän Rhosher hatte uns bereits verlassen und rannte zu der Leiter, die zum Oberdeck führte. Einer unserer Flachländer-Matrosen war schneller. Er benutzte nicht die Leiter, sondern kletterte an der Seite der Kabinen auf das Oberdeck und schnappte sich die Waffe der Edelle u te. Wütend schleuderte er sie von sich, und sie flog über den Rand des Bootes hinweg, klatschte ins Wasser und versank. Einen Moment später tauchte der Führer, wah r scheinlich aufgeschreckt von dem Gewehrschuss, am Schauplatz des Geschehens auf. Er packte den Flachlä n der und redete in seiner eigenen Sprache auf ihn ein, während er ihn gleichzeitig mit Gewalt von den jungen Edelleuten fernhielt. Kurz darauf erreichte auch der K a pitän das Oberdeck. Unten rannte indessen der andere Matrose wie wild auf dem Deck auf und ab und suchte den Fluss nach irgendeinem Zeichen von dem Windhexer ab. Ich lief zur Reling und lehnte mich hinaus, so weit ich konnte. Unterdessen war es so dunkel geworden, dass ich kaum noch unser Kielwasser auszumachen vermoc h te. »Ich kann ihn nicht sehen!«, schrie ich.
Da trat mein Vater zu mir an die Reling. Er fasste mich beim Arm. »Komm, Nevare, wir gehen in unsere Kabine. Wir haben mit alldem nichts zu tun, und es geht uns auch nichts an. Wir halten uns aus dieser Sache he r aus.«
»Aber sie haben den Windhexer erschossen!« Das Herz klopfte mir bis zum Halse vor Schreck und Entse t zen über das, was ich gesehen hatte. »Sie haben ihn get ö tet!«
»Sie haben sein Segel zerschossen. Der Eisenschrot hat die Magie zerstört, die er bewirkte. Das war alles«, beharrte mein Vater.
»Aber ich kann ihn nicht sehen!«
Mein Vater blickte auf das Wasser und zog dann fest an meinem Arm. »Wahrscheinlich ist er ans Ufer g e schwommen. Er dürfte jetzt ohnehin schon weit hinter uns sein; deshalb kannst du ihn auch nicht sehen. Komm jetzt!«
Ich ging mit ihm, aber widerwillig. Auf dem Oberdeck schrie der Kapitän den Führer an, er solle »gefälligst di e se betrunkenen Rüpel im Zaum halten«, während sich einer der besagten Rüpel lauthals beklagte, wie teuer die Waffe gewesen sei, die der Matrose über Bord geworfen hatte, und den Kapitän aufforderte, sie ihm zu ersetzen. Der Matrose auf dem Oberdeck schrie irgendetwas in seiner eigenen Sprache und schüttelte ergrimmt die Faust. Der Kapitän stand immer noch zwischen ihm und den anderen.
Ich
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