Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
umhüllte mich und machte das Boot, das mit der Strömung dahinglitt, zu einem lächerlichen Spielzeug. Was konnte der Mensch machen, das größer war als di e se mächtigen grünen Wesen? Ich hörte zuerst den Ruf eines einzelnen Vogels und dann die Antwort eines and e ren. Da hatte ich einen dieser plötzlichen Momente der Erkenntnis, die so unvermittelt kommen, scheinbar aus dem Nichts. Ich empfand den Wald als ein einziges W e sen, ein Geflecht, ein Gewebe aus Leben, pflanzlichem wie tierischem, das zusammen ein Ganzes bildeten, das sich bewegte, das atmete und lebte. Es war, als schaute ich in das Antlitz Gottes, jedoch nicht das des gütigen Gottes. Nein, dies war einer der alten Götter, dies war der Waldgott selbst, und fast wäre ich auf die Knie gesunken vor seiner Pracht und Herrlichkeit.
Unterhalb der schützenden Äste, die sich oben kreu z ten und ineinander verwoben, erahnte ich eine Welt, und als ein Reh auftauchte, um am Ufer des Flusses zu tri n ken, hatte ich den Eindruck, als wäre es meine plötzliche Wahrnehmung des Waldes als allumfassender Wesenheit gewesen, die das Erscheinen des Tieres hervorgerufen hatte. Ein treibender Baumstamm hatte sich am Ufer ve r keilt. Eine gefleckte Schlange, die fast so lang war wie der Baumstamm, lag darauf und sonnte sich träge in der morgendlichen Kühle. Dann folgte unser Flachboot einer sanften Biegung im Fluss und scheuchte eine Wil d schweinfamilie auf, die sich am Ufer im Schlamm suhlte. Die Tiere drohten uns mit wütendem Schnauben und g e bleckten Hauern. Silbern tropfte das Wasser von ihren borstigen Leibern. Die Sonne war jetzt fast aufgegangen, und die Lieder und Lockrufe der Vögel vereinigten sich zu einer fröhlich trillernden und zwitschernden Symph o nie. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie zuvor den Reichtum und die Fülle des Lebens begriffen hatte, die ein Wald in sich barg, noch den Platz des Menschen in ihm als einem Geschöpf der Natur.
Die Bäume waren so groß, dass ich mir selbst vom Deck des Bootes aus den Hals verrenken musste, wenn ich ihre höchsten Äste vor dem blauen Frühherbsthimmel erspähen wollte. Während wir dahinglitten, veränderte sich der Charakter des Waldes, vom dunklen und düst e ren Immergrün zu einem Gebiet, in dem das Immergrün sich mit Laubbäumen mischte, die sich rot und golden gefärbt hatten. Es erfüllte mich mit Ehrfurcht und Sta u nen, diese belaubten Giganten zu betrachten und das sti l le Leben zu erkennen, das durch ihre Äste und Zweige sickerte. Für einen in der Prärie aufgewachsenen jungen Mann war es außergewöhnlich, sich derart stark zum Wald hingezogen zu fühlen. Plötzlich erschien mir das weite Land, das mich hervorgebracht hatte, dürr und le b los und viel zu hell. Ich sehnte mich von ganzem Herzen danach, auf dem weichen Teppich aus sanft verrottendem Laub unter den weisen alten Bäumen dahinzuschreiten.
Eine Stimme hinter mir sprach, und ich schrak z u sammen.
»Was fasziniert dich so, mein Sohn? Suchst du nach Wild?«
Ich fuhr herum, aber es war bloß mein Vater. Ich war ebenso verblüfft, ihn jetzt zu sehen, wie ich zuvor übe r rascht gewesen war, ihn nicht zu sehen. Meine in sich widerstreitenden Gedanken müssen meinem Gesicht e i nen ziemlich verwirrten Ausdruck gegeben haben, denn er grinste mich an. »Hast du geträumt? Hat das Heimweh dich schon gepackt?«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nein, es ist kein Heimweh, es sei denn nach einer Heimat, die ich bis jetzt noch nie gesehen hatte. Ich weiß nicht genau, was mich so zu ihr hinzieht. Ich habe Rehe gesehen, eine Schlange so lang wie ein Baumstamm und Wildschwe i ne, die sich im Schlamm suhlten. Aber es sind nicht die Tiere, Vater, und auch nicht die Bäume, obwohl sie den bedeutenderen Teil davon ausmachen. Es ist das Ganze. Der Wald. Hast du nicht auch das Gefühl hier, nach Ha u se zu kommen? Als wäre dies der Ort, wo die Menschen immer schon hingehörten?«
Er war dabei, sich seine Pfeife zu stopfen. Währen d dessen musterte er meinen Wald mit verwirrtem, ve r ständnislosem Gesichtsausdruck. Dann schaute er mich an und schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht von mir sagen. Darin zu leben? Kannst du dir vorstellen, wie lange es dauern würde, dort Platz für ein Haus zu roden, von einer Weide gar nicht zu reden? Du wärst ständig im Dunkeln, und im Schatten und m üsstest dich mit Weidegrund voller Wurzelwerk herumplagen. Nein, mein Sohn. Ich habe immer das offene Land vorgezogen, wo ein
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