Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Stunde wieder ab. Der Kapitän war wegen der ganzen Sache offensichtlich verärgert. Keiner von uns erwähnte den Vorfall noch einmal, aber das heißt nicht, dass er mich nicht mehr beschäftigt hätte.
Für den Rest der Reise waren wir die einzigen Pass a giere. Das Wetter schlug um; es wurde kühl und regn e risch. Während wir uns langsam der Stelle näherten, an der die Tefa auf die brodelnden Fluten des Flusses Ister trifft, veränderte sich das Land. Die Prärie wich zuerst Weideland, welches wiederum alsbald in Wald überging. Wir sahen erste Gebirgsausläufer und hinter ihnen die fernen Berge des Südens. Hier flossen die beiden großen Ströme zusammen und vereinten sich zum Soudana-Fluss, der als reißender Strom der See entgegenstürmt. Wir hatten vor, uns in der Stadt Canby auszuschiffen und dort ein Passagierschiff zu besteigen, das uns zum Ziel unserer Reise tragen würde.
Mein Vater fieberte dieser nächsten Etappe unserer Reise regelrecht entgegen. Es war Mode geworden, mit einer Reisegruppe per Kutsche den Fluss hinaufzufahren, sich dabei die Landschaft anzuschauen und unterwegs in Gasthöfen abzusteigen. Canby hatte sich den Ruf erwo r ben, sowohl Sommerfrische als auch Handelszentrum zu sein, denn es hieß, dass die Preise für flachländische Handelsgüter und Pelze dort die besten im ganzen W e sten waren. Die Passagierschiffe, die sich mittels Win d kraft, Staken und Treideln mühsam flussaufwärts wuc h teten, benötigten für die Fahrt flussabwärts naturgemäß erheblich weniger Zeit. Einst hatten sie fast ausschlie ß lich Schafe und Fracht transportiert. Heute waren die Achtzig-Fuß-Gefährte mit allem ausgestattet, was das Herz des gutbetuchten Reisenden begehrte: mit elega n ten kleinen Kabinen, Speise- und Spielsalons, und an Deck wurde allerlei Kurzweil geboten wie Malen mit Wasse r farben, Gedichtvorträge und musikalische Darbi e tungen. Die letzte Etappe unserer Reise bis nach Alt-Thares wü r den wir auf einem solchen Schiff zurückl e gen, und mein Vater hatte mehrmals betont, wie sehr er sich wünschte, dass ich dort, bei meinem Debüt in der feinen Gesel l schaft, eine gute Figur machte.
Wir waren nur noch ein paar Tage von Canby entfernt, als ich eines Morgens mit einem Geruch in der Nase aufwachte, der mir zugleich fremd und vertraut vorkam. Die Morgendämmerung hatte gerade erst begonnen. Ich hörte das leise Plätschern, mit dem die Wellen an dem sanft dahingleitenden Flachboot leckten, und die Lockr u fe der ersten Vögel. Es hatte die ganze Nacht hindurch geschüttet, aber das Licht, das durch das Kabinenfenster fiel, versprach zumindest eine kurze Regenpause. Mein Vater schlief noch tief und fest auf seiner Koje. Ich zog mich rasch und leise an und ging barfuß hinaus auf das Deck. Ein Matrose nickte mir müde zu, als ich an ihm vorbeiging. Eine merkwürdige Erregung, für die ich ke i nen Namen hatte, pochte in meiner Brust. Ich ging direkt an die Reling.
Während der Nacht hatten wir das offene Grasland hinter uns gelassen. Zu beiden Seiten des Flusses e r streckte sich jetzt dunkler Wald, so weit das Auge reic h te. Die Bäume waren riesengroß, größer als alle Bäume, die ich je gesehen hatte, größer sogar, als ich es für mö g lich gehalten hätte, und der Duft, der ihren Nadeln en t strömte, erfüllte die Luft. Die jüngsten Regenfälle hatten die Flüsse anschwellen lassen. Silbrig glänzendes Wasser stürzte von einem Felsenbett herab und vereinte seine Flut mit der des Flusses. Das Geräusch der sich vermä h lenden Wasser klang wie Musik in meinen Ohren. Die feuchte Erde dampfte sanft und duftend in der aufgehe n den Sonne. »Es ist so schön und friedvoll«, sagte ich le i se, denn ich hatte bemerkt, dass mein Vater heraus auf das Deck gekommen war und hinter mir stand. »Und doch so voller Erhabenheit.« Als er nichts erwiderte, wandte ich mich um und war ganz verblüfft, als ich sah, dass ich immer noch ganz allein war. Ich war s o sicher gewesen, dass da jemand ganz in meiner Nähe gewesen war, dass ich mich fragte, ob ich ein Gespenst gesehen hätte. »Oder habe ich doch keins gesehen?«, sagte ich laut, wie um mir selber Mut zu machen, und rang mir ein heiseres, verkrampft klingendes Lachen aus der Kehle. Obwohl das Deck leer war, hatte ich das Gefühl, als be o bachte mich jemand.
Als ich mich jedoch wieder zur Reling umdrehte, überwältigte mich erneut die lebendige Gegenwart all dieser vielen riesigen Bäume. Ihre stille, uralte Erhabe n heit
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