Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
folgte meinem Vater wie betäubt in unsere Kabine. Sobald wir drinnen waren, zündete er die Lampe an und sperrte die Tür fest zu, als könne er damit aussperren, was geschehen war. Entschlossen sagte ich: »Vater, sie haben einen Menschen getötet.« Meine Stimme bebte.
Die Stimme meines Vaters klang belegt, aber ruhig. »Nevare, das weißt du nicht. Ich habe gesehen, wie die Kugeln sein Segel zerfetzten. Aber selbst wenn eine ihn getroffen haben sollte, wird sie auf diese Entfernung wohl nicht einmal mehr die Kraft gehabt haben, seine Haut zu durchdringen.«
Ich spürte, wie seine vernünftiges Argumentieren in mir Unmut auslöste. »Vater, selbst wenn sie ihn nicht erschossen haben, sind sie schuld daran, dass er wah r scheinlich ertrunken ist. Wo liegt da der Unterschied?«
»Setz dich!«, befahl er barsch. Ich setzte mich, mehr, weil mir die Knie z itterten, als aus dem Wunsch, ihm zu gehorchen. »Hör mir zu, Nevare. Wir wissen nicht, ob eine der Kugeln ihn getroffen hat. Wir wissen nicht, ob er ertrunken ist. Leider hält uns im Moment die Strömung gefangen. Wir können nicht zurückfahren, um uns zu vergewissern, ob er tot ist oder noch am Leben. Selbst wenn wir zurück könnten, bezweifle ich, dass wir uns darüber Gewissheit verschaffen könnten. Wenn er e r trunken ist, hat der Fluss ihn verschluckt. Wenn er übe r lebt hat, ist er ans Ufer geschwommen und wahrschei n lich längst fort.« Er ließ sich schwer auf seine Koje fallen und schaute mich an.
Mir fehlten plötzlich die Worte. Die Bewunderung, die ich beim Anblick des Windhexer empfunden hatte, und das Entsetzen über die schändliche Art, wie die beiden Jäger seinem bemerkenswerten Kunststück ein Ende g e setzt hatten, rangen in mir um die Oberhand. Ich wünsc h te mir nichts lieber, als glauben zu können, dass mein Vater Recht hatte und der Windhexer ohne nachhaltigen Schaden davongekommen war. Aber tief in mir empfand ich auch einen seltsamen Schmerz darüber, dass diese jungen Edelleute so gefühllos und gedankenlos etwas so Wunderbares zerstört hatten. Ich hatte den Windhexer nur ganz kurz gesehen, aber in dem Moment hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich alles, wirklich alles gegeben hä t te, um die Kraft kennenzulernen, die er so mühelos auf sein Segel gelenkt hatte. Ich ballte die Hände im Schoß zu Fäusten. »Ich werde wahrscheinlich nie wieder so e t was sehen.«
»Das ist gut möglich. Windhexer waren immer schon eine Seltenheit.«
»Vater, die beiden müssen bestraft werden. Selbst wenn sie ihn nicht getötet haben: Wie leicht hätten sie ihn töten können! Auf jeden Fall aber haben sie sein Boot versenkt und ihm mit ihrer Rücksichtslosigkeit unnötig Schaden zugefügt. Warum? Was hatte er ihnen getan?«
Auf meine letzte Frage gab mein Vater keine Antwort. Er sagte nur: »Nevare, auf einem Schiff ist der Kapitän das Gesetz. Wir müssen dem Kapitän überlassen, wie er in dieser Angelegenheit verfährt. Wenn wir uns einm i schen, wird womöglich alles nur noch schlimmer.«
»Ich wüsste nicht, was da noch schlimmer werden kön n te.«
Die Stimme meines Vaters klang sanft, als er erwide r te: »Es könnte schlimmer werden, wenn die beiden Flachländer sich dazu veranlasst fühlten, sich über diesen Zwischenfall zu empören. Wenn unser Kapitän klug ist, wird er die beiden jungen Männer und ihren Führer bei der n ächsten Gelegenheit an Land setzen, aber vorher wird er dafür sorgen, dass sie den beiden Flachländern, die den Vorfall bezeugen können, eine angemessene Summe Geld zahlen. Im Gegensatz zu uns Gerniern s e hen Flachländer nichts Unehrenhaftes darin, sich kaufen zu lassen. Da der Tod ohnehin nicht rückgängig gemacht und keine Kränkung gänzlich widerrufen werden kann, finden sie, dass nichts dabei ist, wenn man Geld a n nimmt, weil der Übeltäter damit zeigt, dass er sein Ve r gehen ungeschehen machen möchte. Lass Kapitän Rho s her das regeln, Nevare. Dies ist sein Schiff. Wir werden über diesen Zwischenfall kein Wort mehr verlieren.«
Seine Beweisführung überzeugte mich nicht gänzlich, aber etwas Besseres fiel mir auch nicht ein. In der näc h sten Stadt wurden die Jäger mitsamt ihrem Führer und ihren Trophäen ohne viel Aufhebens von Bord gebracht. Die Flachländer-Matrosen sah ich danach nicht mehr, aber ich erfuhr nie, ob sie freiwillig gingen oder entlassen wurden oder einfach ihr Bestechungsgeld nahmen und verschwanden. Wir nahmen zwei neue Matrosen an Bord und legten binnen einer
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