Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
dass ich die Tage auf dem Boot nicht mit Faulenzen verplemperte. Er hatte die Te x te mitgebracht, die an der Kavallaakademie verwendet wurden, und bestand darauf, dass ich die ersten paar K a pitel in jedem Buch las. »Die ersten Wochen in einer K a serne«, warnte er mich, »werden eine ganz neue, ung e wohnte Erfahrung für dich sein, bis du dich daran g e wöhnt hast, vor dem Morgengrauen aufzustehen, zum Frühstück zu eilen und gleich darauf zum Unterricht. Du wirst müder sein als sonst, und abends wirst du vom Z u sammensitzen mit anderen jungen Männern an den St u diertischen im Versammlungssaal deiner Kaserne abg e lenkt werden. Ich habe gehört, dass vielversprechende junge Kadetten oft in den ersten Wochen mit dem Ler n stoff in Rückstand geraten und dann nie wieder richtig den Anschluss finden, weshalb sie dann schlechtere N o ten bekommen, als man normalerweise von ihnen erwa r tet hätte. Wenn du also schon eine Vorstellung von dem hast, was in den ersten Wochen an Unterrichtsstoff auf dich zukommt, hast du eine solidere Basis und sofort e i nen Stein im Brett bei deinen Lehrern.«
Und so vertieften wir uns denn in Texte über Reitkunst und Militärstrategie und die Geschichte der gernischen Streitkräfte. Wir arbeiteten mit Karte und Kompass, und mehrere Male weckte er mich mitten in der Nacht, damit ich mit ihm an Deck ginge und ihm zeigte, dass ich die wichtigsten Sterne und Sternbilder ausmachen konnte, an denen sich ein einsamer Reitersmann in den Weiten der Flachlande orientieren musste. Und wenn unser Boot einmal für einen Tag in einer kleinen Stadt anlegte, um Fracht zu löschen oder aufzunehmen, holten wir unsere Pferde vom Deck, damit sie sich einmal die Beine vertr e ten konnten. Trotz seines Alters war mein Vater immer noch ein ausgezeichneter Reiter, und er ließ keine Gel e genheit aus, seine Erfahrungen an mich weiterzugeben.
Noch fast am Anfang unserer Reise gab es einen Vo r fall, der unsere Besatzung spaltete und nachträglich die Vorbehalte meines Vaters hinsichtlich der Tatsache rechtfertigte, dass Kapitän Rhosher Flachländer als M a trosen beschäftigte. Es passierte, als der Abend sich über das Land senkte. Der Sonnenuntergang war großartig: Wahre Farbfluten überschwemmten den Horizont und spiegelten sich in den stillen Wassern vor uns. Ich stand im Bug des Schiffes und genoss den Anblick. Plötzlich sah ich eine einsame Gestalt in einem kleinen Boot, das sich seinen Weg wider die Strömung bahnte, auf uns z u kommen. Das winzige Gefährt hatte ein kleines Rahs e gel, das nicht einmal so groß war wie der Mann an Bord, sich aber voll im Wind bauschte. Der Mann selbst war groß und s chlaksig, und er stand aufrecht. Da das Segel ihn verdeckte, konnte ich ihn nur zum Teil sehen. Fasz i niert starrte ich zu ihm hinüber, denn obwohl er gegen die Strömung fuhr, schnitt sein Boot hurtig durch das Wasser.
Als er uns gewahrte, sah ich, wie er irgendetwas mac h te, das sein Boot nach Backbord abdrehen ließ, so dass er uns in sicherem Abstand passieren würde. Wä h rend ich zu ihm und seinem ungewöhnlichen Boot hi n überstarrte, vernahm ich schwere Schritte auf dem Deck hinter mir. Ich drehte mich um und sah, wie mein Vater und der Kapitän ihre Pfeifen stopften, während sie zum Bug schlenderten, um zusammen ihr abendliches Pfei f chen zu schmauchen. Kapitän Rhosher zeigte mit dem Stiel seiner noch nicht angezündeten Pfeife auf das S e gelboot und bemerkte heiter: »Na, da sehen Sie was, das sie kaum noch auf diesem Fluss sehen. Einen Windhexer. Als ich noch jung war, sind wir seinesgleichen oft b e gegnet. Sie bauen diese Kalebassen selbst an, müssen Sie wissen. Die Kürbisse von so einer Ranke sind riesig, und sie düngen sie mit Eichhörnchenkot und formen die Früchte, während sie wachsen. Wenn die Kürbisse groß genug sind, schneiden sie sie ab, lassen sie trocknen und aushärten und formen sie dann zu Booten.«
»Na, das ist ja ein schönes Ammenmärchen!«, sagte mein Vater.
»Nein, Sir, ich versichere Ihnen, es ist wahr! Ich hab sie selbst wachsen sehen, und einmal hab ich sogar dabei zugeschaut, wie sie den Kürbis in die richtige Form g e schnitten haben. Aber das ist Jahre her. Und ich glaube, es ist schon über ein Jahr her, seit ich auf diesem Fluss das letzte Mal einen Windhexer gesehen habe.«
Das kleine Boot war auf gleicher Höhe mit uns ang e kommen, während er dies sagte, und eine seltsame Kälte kroch mir über den Rücken und ließ mir die
Weitere Kostenlose Bücher