Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
sagen: »Ein echter Krieger findet sich nicht mit fortgesetzten Demütigungen ab. Ein echter Krieger findet einen Weg, sich zu wehren.«
Spink wälzte sich in seinem Bett herum. »Nevare spricht schon wieder im Schlaf«, stöhnte er.
»Sei still, Nevare«, riefen Kort und Natred müde im Chor. Ich ließ mich auf meine Koje zurücksinken und vom Schlaf übermannen.
Die wenigen Wochen Initiation, die noch übrig bli e ben, kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Die Streiche wu r den noch gröber. Eines Nachts wurden wir alle im Nachthemd aus dem Bett gescheucht und gezwungen, draußen bei strömendem, eisigem Regen strammzust e hen. Sergeant Rufet war eigens zu diesem Zweck von seinem Schreibtisch weggelockt worden; er fand uns so vor, als er eine seiner regelmäßigen Rundgänge um das Gebäude machte, und befahl uns erbost, sofort wieder ins Bett zu gehen. Solche Demütigungen konnte ich nicht länger wie Rory als sportliche Herausforderung nach dem Motto: »Was mich nicht umbringt, macht mich nur noch härter« abtun. Ich sah sie jetzt als Gelegenheiten, bei denen die Söhne des alten Adels ungestraft ihr Mü t chen an uns kühlen und uns zeigen konnten, was sie wirklich von uns hielten. Wenn sie mich hänselten oder mich zwangen, mich wie ein Idiot zu benehmen oder mir meine Zeit mit der Auferlegung sinnloser Dienste sta h len, brannte mir das jetzt glühend heiß in der Seele. In mir bi l dete sich eine kleine Quelle des Zorns, eine, die sie stetig speisten, Tropfen für Tropfen. Ich war immer ein gutm ü ti ger Junge gewesen, einer, der es d urchaus vertrug, sich auch einmal auf die Schippe nehmen zu la s sen, und der auch die derbsten Streiche verzieh. In jenen sechs W o chen lernte ich, was es bedeutet, einen Groll zu hegen.
Ich begann, vielleicht törichterweise, mich hier und da hinterhältig zu rächen. Als ich das nächste Mal die Stiefel der Zweitjährler wichsen musste, wichste ich die Schnü r riemen gleich mit ein, so dass sie sich beim Zubinden die Hände schmutzig machten. Natürlich wussten sie, dass ich der Übeltäter gewesen war, und herrschten mich w ü tend an, das ja nicht noch einmal zu machen. Beim näc h sten Mal putzte ich die Stiefel sorgfältig, schmierte aber einen Klumpen Harz in die Sohlenrillen mehrerer zufä l lig ausgewählter Stiefel. Als sie am nächsten Morgen ihr Wohnheim verließen, verteilten sie die klebrige Masse auf den Fußböden ihres gesamten Stockwerks und ka s sierten nach der mittäglichen Stubeninspektion dafür die gebührende Strafe. Die Schuld daran schoben sie sich gegenseitig in die Schuhe, und der Gedanke an die Stra f runden, die sie dafür drehen mussten, erfüllte mich mit Schadenfreude. Es war doch weit besser, ihre Missg e schicke als zufällig erscheinen zu lassen.
Ein paar Nächte später erhob ich mich aus dem Bett, sobald ich zu der Überzeugung gelangt war, dass die a n deren schliefen. Möglichst lautlos ging ich durch den Gemeinschaftsraum, doch gerade als ich die Tür erreic h te, vernahm ich Rorys Stimme.
»Was machst du, Nevare?«
Er und Nate saßen im Dunkeln und unterhielten sich leise. Ich hatte sie nicht gesehen.
»Ich muss mal ganz kurz raus; nur für ein paar Min u ten.«
»Was hast du da bei dir? Wieder Harz?«
Als ich keine Antwort gab, lachte Rory prustend. »Ich hab dich neulich dabei beobachtet, wie du’s gesammelt hast. Ganz schön listig, Nevare. Das hätte ich dir nicht zugetraut. Und was hast du diesmal vor?«
Ich war hin und her gerissen zwischen Widerstreben und einer gehörigen Portion Stolz auf meinen Einfall s reichtum. Ich ging die paar Schritte zurück zum Kamin, blies auf die Glut, bis eine kleine Flamme emporzünge l te, und in deren Schein zeigte ich ihnen, was ich in der Hand hielt.
»Holzsplitter? Was willst du denn mit Holzsplittern?«
»Sie in einen Türrahmen stecken.«
Nate war aufrichtig schockiert. »Nevare! Das ist doch gar nicht deine Art! Oder etwa doch?«
Ich schüttelte den Kopf, ein bisschen überrascht von seiner Frage, und für einen Moment beschämt. Es war in der Tat nicht meine Art, solche Streiche zu spielen. Es hätte eher Dewara ähnlich gesehen, dachte ich bei mir. Sie waren typisch flachländisch, diese kleinen gemeinen hinterhältigen Tricks, und eines Gentlemans sicher u n würdig. Ich dachte einen Moment darüber nach, fand aber, dass dies kein hinreichender Grund war, mich d a von abzuhalten. Es war fast, als hätte ich ein zweites Ich in mir entdeckt, das zu solchen Dingen fähig
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