Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
war.
Rory beugte sich ein Stück tiefer über meine Hand, um die Spreißel besser sehen zu können, und schüttelte dann den Kopf. »Die sind doch viel zu klein. Die werden nie und nimmer halten.«
»Sollen wir darauf wetten?«, sagte ich.
»Ich komme mit. Ich muss das mit eigenen Augen s e hen.«
Rory und Nate folgten mir, als ich die Treppe zum nächsttieferen Stockwerk hinunterschlich. Die Zweitjäh r ler hatten eine Tür, die von ihrem Gemeinschaftszimmer ins Treppenhaus führte. Sie hielten sie nachts geschlo s sen, damit die Wärme in ihren Zimmern blieb. Ich hockte mich hin. Das trübe Licht der Treppenhauslampe war so schwach, dass Rory und Nate kaum sehen konnten, wie ich die Holzsplitter einen nach dem anderen unter die Tür klemmte. »Steck an der Seite auch welche rein«, schlug Rory im Flüsterton vor.
Ich nickte, grinste und drückte sie fest in den Spalt d i rekt oberhalb der Angeln, bis sie bündig mit dem Tü r rahmen waren.
Am nächsten Morgen scheuchten wir unsere Kamer a den aus dem Zimmer und hinunter auf den Paradeplatz, wobei wir das Klopfen und die Rufe an der Tür der Zweitjährler ignorierten, als wir an ihr vorbeikamen. U n ten angekommen stellten wir uns ohne Unteroffizier Dent auf und warteten mit scheinheiliger Unschuldsmiene auf unseren Aufseher, als die Drittjährler und die Offizier s anwärter eintrafen. Sämtliche Zweitjährler kamen zu spät auf den Paradeplatz und wurden entsprechend mit Stra f runden »belohnt«. Für die meisten von uns war es leicht, unschuldig dreinzublicken, weil Nate, Rory und ich unser Geheimnis für uns behalten hatten. Ich weiß nicht, ob Nate oder Rory etwas ausgeplaudert hatten, aber bis zum Mittag hatten mir alle meine Kameraden auf die eine oder andere Weise ihre heimlichen Glückwünsche übe r mittelt. Unser Wachhund hatte uns im Verdacht und set z te alles daran, um uns für den Rest des Tages das Leben schwer zu machen. Aber auch das tat unserer guten La u ne keinen Abbruch, was ihn, wie ich glaube, nur noch wütender machte.
Ich hätte mit diesen kleinen Gemeinheiten besser gar nicht erst angefangen, denn ich hätte mir denken können, dass Rory den Kleinkrieg aus Gehässigkeiten, der da r aufhin entbrannte, nur noch verschärfen würde. Ich bin sicher, dass er es war, der in ihren Wasserkrug pinkelte, der neben dem Waschbecken stand, aber beweisen kann ich das natürlich nicht. Tag für Tag schikanierten uns die Zweitjährler, und jedes Mal fanden wir einen Weg z u rückzuschlagen. Wir waren bei weitem listiger und ei n fallsreicher als sie. Nach einer Nacht in Bettlaken, die zuvor mit Mehl und Zucker eingerieben worden waren, erwachten die Zweitjährler klebrig wie Klöße. Ein au s gehöhltes und mit Pferdehaaren aus dem Stall vollg e stopftes Feuerholzscheit jagte sie eines Nachts aus ihrem Gemeinschaftsraum. Sie beschimpften und beschuldigten uns, konnten aber nichts beweisen. Mit gesenktem Blick rissen wir unsere Strafrunden herunter und unterwarfen uns ihnen scheinbar, aber des Nachts, nach dem Löschen des Lichts, hockten wir oft zusammen und freuten uns gemeinsam über unsere gelungenen Schelmenstücke. Mit unserer anfänglichen gutmütigen Hinnahme der Schik a nen war es vorbei. Wir führten einen zähen Abnutzung s krieg, denn wir wollten ihnen zeigen, dass wir uns nicht von ihnen unterkriegen ließen.
Die sechswöchige Initiation fand ihren Höhepunkt in einem wilden Handgemenge auf dem Paradeplatz. Trad i tionsgemäß war es eine Art Scheingefecht, ein Wet t kampf im Ringen, Tauziehen, Laufen oder in irgendeiner anderen Sportart zwischen den einzelnen Häusern, der, wenigstens in der Theorie, alles böse Blut und alle Fein d seligkeit, die sich während der Initiation aufgestaut haben mochten, zerstreute. Alle sollten geläutert daraus hervo r gehen, als gleichberechtigte Kadetten der Akademie, und es sollten wieder Frieden und Eintracht herrschen. Aber in meinem ersten Jahr ging alles schief, und bis heute glaube ich nicht, dass das, was passierte, reiner Zufall war. Wie naiv wir doch alle waren! Wir waren bis zum Siedepunkt gereizt und durch Druck und Schikane auf Trab gehalten worden. Wir hätten wissen müssen, dass es töricht war, irgendetwas von dem zu glauben, das ein Zweitjährler aus unserem Haus uns weiszumachen ve r suchte. Doch als Unteroffizier Dent die Treppe h eraufg e poltert kam und schrie, wir sollten ihm folgen, Haus Bringham habe die Flagge von Haus Carneston gestohlen und wolle sie nicht mehr
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