Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Als ich die Seiten auseinanderfaltete, rieselte ein feiner Staub aus braunen Flocken auf mein Bett.
»Schau sich einer das an! Seine Freundin hat ihm Schnupftabak geschickt!«, rief Kort verblüfft. Mehrere Köpfe drehten sich in meine Richtung, um zu sehen, w o von er sprach. Ich arbeitete mich bereits durch das Lab y rinth von Carsinas verschnörkelter Handschrift. Die braunen Flocken erinnerten in der Tat an Schnupftabak, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mir so e t was als Geschenk geschickt hatte.
Ich musste mich durch zwei blumenreich ausg e schmückte Seiten voller Kosewörter und Einsamkeit, Rechtschreibfehler und Vorfreude hindurchlesen, bis ich das Rätsel gelöst hatte. »Ich lehge meinem Brief ein paar Stiehfmütterchen aus meinen Gaten bei. Dieß sind die gröhsten und läuchtensten Blüten die ich jeh gepflannzt habe und ich habe sie sorgfeltig für dich geprest damit sie ihre Farbe behallten. Manche Leute glauben das Stieh f mütterchen kleine Gesichter haben. Wenn die hier we l che haben dann hat jedes von ihnen einen Kuss für dich, denn ich habe sie selbst dort hinneingetan!«
Ich lächelte. »Sie hat mir gepresste Blumen g e schickt«, sagte ich zu Kort.
»Oh, ein Sträußchen für ihren Liebsten!«, frotzelte er, aber selbst in diesem Frotzeln lag das augenzwinkernde Bekenntnis, dass wir etwas gemeinsam hatten, und ich fühlte mich männlicher bei dem Gedanken, dass er wus s te, dass es da ein Mädchen gab, das auf mich wartete. Ich schlitzte die andere Seite des Umschlages auf und faltete ihn vorsichtig auseinander, auf der Suche nach den R e sten meines Geschenks. Aber alles, was ich fand, war brauner Staub, der herausrieselte und noch einen Moment in der Luft schwebte, bevor er zu Boden sank. Voller Bestürzung schaute ich auf die traurigen Überreste von Carsinas Blumenpräsent.
»Die Blumen müssen völlig vertrocknet sein.«
Kort zog eine Braue hoch. »Vor wie langer Zeit hat sie sie dir denn geschickt? Ist der Brief irgendwo liegeng e blieben?«
Ich überprüfte das Datum. »Eigentlich war er ziemlich kurz unterwegs. Sie hat ihn erst vor zehn Tagen abg e schickt.«
Er schüttelte den Kopf, ein Lächeln im Gesicht. »Dann glaube ich, dass deine Liebste sich einen kleinen Spaß mit dir erlaubt hat, Nevare. Nichts verfällt so geschwind. Ein schwieriges Dilemma: Willst du dich bei ihr für ihre hü b schen Stiefmütterchen bedanken, oder willst du sie fr a gen, warum sie dir eine Handvoll Kompost geschickt hat?«
Andere von meinen Schulkameraden waren jetzt ebe n falls aufmerksam geworden. Rory war ins Zimmer g e kommen und trompetete lachend: »Ich glaube, sie stellt dich auf die Probe, Bruder; sie möchte sehen, wie ehrlich du bist!«
Ich wischte die feinen Flocken von meinem Bett. Sie blieben an meiner Handfläche haften. Meine Hand kri b belte seltsam. Ich widerstand dem Drang, sie anzustarren, und brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Wir ve r passen noch unser Essen, wenn wir jetzt nicht gehen.«
»Und wir fallen bei unserer Stubeninspektion durch, wenn du deine ›Blumen‹ nicht aufkehrst!«, fügte Spink herzlos hinzu.
Ich tat, wie Spink geraten hatte, und wusch mir dann hastig die Hände, weil alle auf mich warteten. Bis zum späten Abend war es mir gelungen, mich zu der Übe r zeugung durchzuringen, dass es albern war zu glauben, mein Traum sei eine Vorahnung gewesen oder habe überhaupt irgendeine Bedeutung. Es würde sicher k o misch wirken und wohl auch ein wenig peinlich, wenn ich Carsina schrieb, dass ihr Geschenk unterwegs zu Staub zerfallen war, aber ich hatte mir fest vorgeno m men, immer ehrlich zu ihr zu sein. Ich las ihren Brief noch mehrere Male, bevor ich in jener Nacht schlafen ging; ich prägte mir jeden Satz fest ein und küsste ve r stohlen ihre verschnörkelte Unterschrift, bevor ich den Brief schließlich unter mein Kopfkissen steckte. Ich schlief mit dem festen Vorsatz ein, von meiner zukünft i gen Braut zu träumen, aber wenn ich überhaupt träumte in jener Nacht, konnte ich mich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern.
13. Diakon Gord
In meinen dritten Monat an der Akademie ging ich mit der Erwartung, dass mein Leben sich von jetzt an zu e i nem vorhersehbaren Schema fügen würde. Die Initiation lag hinter uns, und ich hatte die erste Aussonderung überstanden. Der Schock dieses Erlebnisses hatte eine Phase der Niedergeschlagenheit nach sich gezogen, die uns alle befallen hatte. Doch diese Niedergeschlagenheit war
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