Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Diese köstliche Seelenqual lenkte mich ernstlich von meinem Studium ab. Sie wurde zu meinem nächtlichen Ritual: abendliches Waschen, Abendgebet und dann in die Dunkelheit starren, den tiefen Atemzügen meiner schlummernden Kameraden lauschen und an Carsina denken.
Ich träumte oft von ihr. Eines Nachts, als ich wie i m mer mit Carsina im Herzen und in meinen Gedanken ei n schlief, träumte ich sehr lebhaft, dass ein Brief von ihr eingetroffen war. Die Einzelheiten dieses Traums waren verblüffend lebensecht.
Sergeant Rufet verteilte die Post an uns. Oft fanden wir, wenn wir von unseren morgendlichen Lektionen zurückkehrten, unsere Briefe und Päckchen exakt in der Mitte unseres Betts liegend vor. Der Brief in meinem Traum war in der Handschrift meiner Schwester an mich adressiert, aber ich wusste sofort, dass er eine Botschaft von Carsina enthielt. Ich steckte ihn in meinen Unifor m rock und beschloss, ihn allein und unbeobachtet zu öf f nen, damit ich ganz für mich genießen konnte, was sie mir geschrieben hatte. Im letzten goldenen Licht des Nachmittags schlüpfte ich unbemerkt aus dem Woh n heim und begab mich zu einem friedlichen Eichenwäl d chen, das an eine Wiese östlich von Haus Carneston grenzte. Dort lehnte ich mich gegen einen Baumstamm und öffnete meinen lang erwarteten Brief. Licht fiel durch das herbstliche Blätterdach über mir. Herabgefa l lenes Herbstlaub raschelte leise in der sachten Abendbr i se, die vom Fluss herüberwehte.
Ich zog die heißersehnten Seiten aus dem Umschlag. Der Brief meiner Schwester war ein goldenes Laubblatt. Als ich es anschaute, wurde es braun, und die mit Tinte geschriebenen Zeilen verblichen zur Unleserlichkeit. Die Ränder des Blattes rollten sich nach innen, bis es der trockenen Hülle einer Schmetterlingspuppe ähnelte. Als ich versuchte, es auseinanderzufalten, zerfiel es zu kle i nen braunen Krümeln, die vom Wind davongetragen wurden.
Carsinas Brief war auf Papier geschrieben. Ich ve r suchte, ihn zu lesen, aber ihre Handschrift, sonst so groß und verschlungen, war zu winzigen, spinnenartigen Buchstaben geschrumpft, die in sich so verschnörkelt waren, dass ich sie nicht zu entziffern vermochte. Aber im Innern des in sich gefalteten Blattes lagen drei g e presste Veilchen. Sie waren sorgfältig in ein Blatt hauc h feinen Papiers eingeschlagen. Als ich sie vorsichtig h e rausnahm und in meine geöffnete Hand legte, konnte ich ihren Duft plötzlich so intensiv riechen, als wären sie frisch erblüht. Ich hielt die Nase ganz dicht an sie, sog ihren Duft ein und wusste irgendwie, dass Carsina dieses winzige Sträußchen einen Tag lang an ihrem Kleid getr a gen hatte, bevor sie es gepresst und an mich gesandt ha t te. Ich lächelte, denn der Duft der Blumen enthielt ihre Liebe zu mir. Ich war selig, dass d ie Frau, die für mich bestimmt war, mir solch tiefe Zuneigung entgegenbrac h te. Nicht alle, deren Verlöbnis von den Eltern arrangiert worden war, konnten sich so glücklich schätzen. Meine Zukunft lag golden und gesichert vor mir. Ich würde O f fizier werden, und ich würde Männer führen und meinem König ein guter Soldat sein. Meine Angebetete würde zu mir kommen und meine Frau werden und mein Heim mit Kindern füllen. Wenn meine Tage als Kavallaoffizier gezählt waren, würden wir den Rest unserer Jahre in e i nem schönen Heim in Breittal verbringen, auf dem Besitz meines Bruders.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, begannen die Veilchen in meiner Hand zu wachsen. Sie knospten, und weitere Blüten gesellten sich zu den drei schon vorhandenen, und die drei ältesten Blüten bildeten winzige Samenkörner, die in meine hohle Hand fielen. Sie keimten und fassten Wurzel in den Linien meiner Hand, und kleine grüne Blätter öffneten sich den Strahlen der Sonne. Blüten mit den Gesichtern von Kindern b e gannen sich zu öffnen. Ich wachte über sie und hegte sie, während ich mit dem Rücken am Stamm einer großen Eiche lehnte.
Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasste, den Blick von ihnen abzuwenden und aufzublicken. Sie machte kein Geräusch. Sie stand da, regungslos wie ein Baum, und schaute mich mit großer Entschlossenheit an. Winz i ge Blumen blühten in ihrem Haar. Das Gewand, das sie umhüllte, hatte die goldene Farbe von Birkenblättern im Herbst. Die majestätische Baumfrau schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein«, sagte sie. Ihre Stimme war leise und klang nicht unfreundlich, aber ihre Worte drangen mit vollkommener
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