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Nevare 01 - Die Schamanenbrücke

Titel: Nevare 01 - Die Schamanenbrücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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Klarheit an meine Ohren. »Das ist dir nicht bestimmt. Anderen mag es vielleicht genügen, aber dich erwartet ein anderes Schicksal. Es gilt eine Aufgabe zu erfüllen, zu der du ausersehen wurdest, und sie erwa r tet dich jetzt. Nichts und niemand wird dich davon a b bringen. Du wirst dich ihr widmen, selbst wenn du dich ihr nähern musst wie ein Hund, der den Steinen entfli e hen will, die nach ihm geworfen werden. Es ist dir geg e ben, sie aufzuhalten. Nur du kannst das, Soldatenjunge. Alles Andere muss warten, bis dein Werk getan ist.«
    Ihre Worte machten mir Angst. Das war unmöglich. Ich blickte zurück auf die Zukunft, die ich so sicher und fest in meiner Hand zu halten glaubte. Das Blattwerk der Frucht unserer Liebe in meiner hohlen Hand b lühte noch einmal kurz auf, wie in einer letzten, verzweifelten A n strengung, um dann zu meinem Entsetzen gelb und welk zu werden. Die kleinen Gesichter schlossen ihre Augen und wurden fahl und bleich. Die Blüten neigten sich, verwelkten und zerbröselten zu totem Laub in meiner Hand.
    »Nein!«, schrie ich, und erst da merkte ich, wie sehr die Eiche mich schon in sich aufgenommen hatte. Ihre Rinde war mir über die Schultern gewachsen und umfing meinen Oberkörper. Jahre zuvor hatten mein Bruder und ich einmal eine Schaukel am Ast einer Weide hängen lassen. Mit der Zeit war der Ast um die Seile, die die Schaukel hielten, herumgewachsen, bis von ihnen nichts mehr zu sehen gewesen war. Genauso verschlang dieser Eichenbaum jetzt mich; er umwucherte mich und nahm mich in sich auf. Es war zu spät, um noch Widerstand zu leisten. Verzaubert von den Blumen in meiner Hand, war ich unachtsam gewesen.
    Ich hob den Kopf und öffnete den Mund, um zu schreien. Doch statt eines Schreis brach lautlos ein Sturzbach grüner Ranken aus meinem Mund hervor. Sie bohrten sich zu meinen Füßen in die Erde und sprossen sogleich als Schösslinge wieder empor. Auf der Wiese vor mir wuchs ein Wald, und ich fühlte, wie seine Bäume Kraft und Nahrung aus meinem Körper sogen. Als Nev a re schwand ich zu einem Nichts und wurde stattdessen zu einem grünen Bewusstsein. Meine Baum-Ichs wuchsen und drangen zu den Gebäuden auf dem Campus vor und hüllten sie alsbald ein. Meine Wurzeln ließen die Ge h wege bersten und die Fundamente brüchig werden. Me i ne Äste durchstießen Fensterscheiben. Ich ließ gelbe Ranken über die staubigen Böden leerer Klassenzimmer gleiten. Die Akademie fiel vor mir in sich zusammen und wurde ein Wald – ein Wald, der langsam über die Ma u ern des Akademiegeländes klomm und in die Straßen und Gassen von Alt-Thares weiterwucherte.
    Bei alledem fühlte ich nichts. Ich war grün und lebe n dig, und ich wuchs, und das bedeutete, dass alles gut war. Alles war sicher. Ich hatte sie alle beschützt. Dann spürte ich, wie Schritte langsam durch mich hindurchgingen; jemand bewegte sich durch den Wald, zu dem ich g e worden war. Langsam wurde ich ihrer gewahr. Von gr o ßer Zuneigung erfüllt richtete ich meine Aufmerksamkeit auf sie.
    Die riesenhafte Baumfrau aus meinem Traum wandte ihr Gesicht zu den Lanzen aus Sonnenlicht empor, die durch meine dichtes Laubdach hindurchstachen. Ihr graugrünes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall über d en Rücken. Sie lächelte zu mir herauf, und das Fleisch, das ihr Gesicht schmückte, spiegelte ihr Lächeln wider. »Du hast es getan. Du hast sie aufgehalten. Dies ist dein E r folg.« Eine Woge von Stolz brandete in mir hoch. Ich begriff. Die Heilung der Erde, die ich in meiner Welt bewirkte, würde auch eine Heilung dieser anderen Welt sein.
    Einen Moment später wurde die Woge des Stolz von Entsetzen hinweggespült. Mein Feind hatte mich irreg e leitet. Nicht sie und ihren Wald liebte ich. Meine Liebe galt meinem Vaterland und meinem König. Ich sah sie, wie sie wirklich war – fett und abstoßend; Doppelkinn über Doppelkinn wabbelten wie bei einem Frosch, der sich anschickt zu quaken. Dafür konnte ich mein Leben nicht hingeben.
    Als ich erwachte, stand Spink über mir. Er hatte mich bei den Schultern gepackt und schüttelte mich grob. »Wach auf, Nevare!«, rief er. »Du hast schlecht g e träumt!« Erst jetzt sah ich, dass es in der Stube stockdu n kel war. Dankbar und erleichtert ließ ich mich in meine zerwühlten Decken zurücksinken.
    »Es war nur ein Traum. Ach, dem gütigen Gott sei Dank, es war nur ein Traum! Ein Traum.«
    »Schlaf weiter!«, sagte Natred mit gequälter Stimme. »Es sind noch ein paar Stunden bis zum

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