Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Morgenappell. Ich brauch meinen Schlaf!«
Kurz darauf war in dem Zimmer wieder Ruhe eing e kehrt; außer dem gleichmäßigen Atmen meiner Stube n kameraden hörte ich nichts. Schlaf war ein kostbares Gut für uns Kadetten; wir schienen nie genug davon beko m men zu können. Doch für den Rest dieser Nacht war für mich an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich starrte in die dunkle Ecke meiner Stube und sagte mir stumm immer wieder, dass es nur ein Traum gewesen war. Ich rieb meine Hände aneinander, um das Jucken wegzubeko m men, das die Wurzeln auf meinen Handflächen hinterla s sen hatten. Viel schlimmer aber war das Stechen in me i nem Herzen. Bisher hatte ich damit gehadert, dass ich nicht das angeborene Talent zu führen besaß, das Spink und Trist so selbstverständlich an den Tag legten, aber ich hatte nie an meinem Mut gezweifelt. In meinem Traum hatte ich mich jedoch klar dafür entschieden, mich mit der Baumfrau zu verbünden. War mein Traum ein Abbild meiner Seele? Lauerte Feigheit in mir? Kon n te ich zum Verräter werden? Mir fiel kein anderer Grund ein, warum ich mich von meinem Patriotismus, meiner Treue zu meinem König und meiner Familie hätte a b wenden sollen.
Der nächste Tag war eine Qual für mich. Ich konnte kaum die Augen offen halten und handelte mir sowohl in Varnisch als auch in Mathe eine Strafarbeit ein. Als wir mittags ins Wohnheim zurückkehrten, war ich erschöpft und hungrig. Ich hätte nicht sagen können, was ich mehr wollte – mein Mittagessen oder einen kurzen Mittag s schlaf. Da entdeckte ich einen Umschlag, der auf meiner Koje lag. Spink und Natred hatten ebenfalls Post erhalten und rissen sie freudig erregt auf. Ich merkte erst, dass ich wie versteinert dastand und meinen Brief anstarrte, als Kort mich stupste. »Ist das nicht der Brief, auf den du die ganze Zeit gewartet hast?«, fragte er. Sein Lächeln war zugleich warm und neckisch.
»Vielleicht«, sagte ich vorsichtig. Er schaute mich e r wartungsvoll an, also hob ich den Umschlag auf. Er trug die vertraute Handschrift meiner Schwester und war an mich adressiert, aber er wog mehr als ihre üblichen obe r flächlichen Botschaften. Kort starrte mich mit neugier i gem Blick an. Wegschicken konnte ich ihn nicht, denn ich hatte ihn mit der gleichen Neugier beobachtet, als er Post bekommen hatte. Zu jeder anderen Zeit hätte ich etwas dagegen gehabt, dass er diesen Moment mit mir teilte, aber plötzlich empfand ich es als tröstlich, dass er da war. Die vorausgegangene Nacht war ein Traum g e wesen, und Kort, der direkt neben mir stand, verankerte mich in der Realität. Dieser Umschlag konnte sehr wohl eine Nachricht von Carsina enthalten. Eine Nachricht von meiner zukünftigen Braut, der Frau, die die Mutter me i ner Kinder sein würde. Ich riss den Umschlag auf und zog den Inhalt vorsichtig heraus.
Ein Pflichtbrief von meiner Schwester, mehrere Seiten länger als gewöhnlich, enthielt einen zweiten, der auf hauchdünnem Papier geschrieben war. Ich zwang mich, das Schreiben meiner Schwester zuerst zu lesen. Ihr war in der Tat eine Reihe von Dingen eingefallen, die ich ihr aus Alt-Thares schicken konnte, falls ich einmal die G e legenheit haben sollte, in die Stadt zu kommen. Ihre Liste war ziemlich konkret und nahm zwei Seiten ihres Briefes ein: Perlen in bestimmten Farben, Größen und Mengen; Spitze, nicht mehr als einen Zoll breit, in Weiß, Ekrü und dem blassesten Blau, das ich finden konnte, jeweils mi n destens drei Ellen; Knöpfe in der Form von Beeren, Ki r schen, Äpfeln, Eicheln oder Vögeln, aber bitte nicht in Form von Katzen oder Hunden, mindestens zwölf von jeder Sorte, und falls es sie in zwei Größen gab, jeweils zusätzlich vier Stück in der kleineren Größe. Nach den Kurzwaren folgte eine Liste mit Zeichenstiften und me h reren Schreibfedern, die sie gern gehabt hätte. Ich musste über ihre fröhliche Habsucht schmunzeln. Wahrschei n lich wusste sie genau, dass ich mein Bestes tun würde, um ihr ein paar ihrer Herzenswünsche zu erfüllen, wenn nicht alle.
Kopfschüttelnd faltete ich ihren Brief wieder zusa m men und widmete meine Aufmerksamkeit dem Päckchen aus feinem Papier in seinem Innern. Ein Tropfen karm e sinfarbenen Lacks versiegelte diesen Brief, und in E r mangelung eines Ringes hatte die Verfasserin einen Fi n ger in den Siegellack gedrückt. Ich versuchte, das Siegel beim Öffnen nicht zu beschädigen, scheiterte bei diesem Unterfangen indes kläglich. Es zerbröckelte zu roten Krümeln.
Weitere Kostenlose Bücher