Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
von neuem Adel werden zusammeng e schlagen?« Spink klang weit entsetzter als ich.
Doktor Amicas gab ein bitteres, kurzes Lachen von sich. »Nun, meine Untersuchungen lassen kaum einen anderen Schluss zu. Aber es sind nicht allein Erstjährler, denen diese ›Unfälle‹ zustoßen. Meine schriftlichen B e richte sprechen von allem Möglichem, von herabgefall e nen Ästen bis hin zu Stürzen in den Fluss, weil jemand auf schlüpfrigem Untergrund ausgerutscht ist.« Er sah uns ernst an. »Dieser Zweitjährler neulich wäre beinahe gestorben. Ich weiß nicht, warum ihr alle dazu schweigt; muss erst einer von euch tot sein, bevor ihr Beschwerde erhebt? Solange ihr das Schweigen nicht brecht, kann ich nichts für euch tun. Nichts.«
»Sir, mit Verlaub, dies ist das erste Mal, dass wir d a von hören. Bisher habe ich noch nie von solchen Unfä l len bei Kadetten erfahren.« Spink war zutiefst erschü t tert. Ich selbst sagte nichts. Ich hatte das höchst eige n tümliche Gefühl, etwas zu hören, das ich schon längst wusste. Hatte ich wirklich den Verdacht gehabt, dass sich solche Vorfälle an der Akademie ereigneten?
»Nein? Nun, ich musste in diesem Jahr schon zwei junge Burschen nach Hause schicken. Einen wegen eines zerschmetterten Beines, und der Bursche, der fast im Fluss ertrunken wäre, bekam eine Lungenentzündung. Und jetzt dieser junge Mann mit faustgroßen Prellungen an der Brust und am Bauch, weil er ›von der Treppe h e runtergefallen‹ sein will.« Er nahm seine Brille wieder ab, und diesmal wienerte er sie wie wild mit dem Saum seines Kittels. »Was glaubt ihr? Dass die Kerle, die so etwas tun, euch dafür respektieren, dass ihr sie nicht a n zeigt? Dass es irgendetwas mit Ehre oder Mut zu tun hat, diese Art von Misshandlungen klaglos über sich ergehen zu lassen?«
»Ich hatte bis zu diesem Moment noch nichts von so l chen Misshandlungen gewusst, Sir«, wiederholte Spink stur. Ein Unterton von Wut schwang jetzt in seiner Stimme mit.
»Nun, dann wisst ihr es jetzt. Also denkt darüber nach. Alle drei.« Während er sprach, hatte er sich gegen die Koje gelehnt, auf der Gord saß. Abrupt straffte er sich. »Ich wurde dazu geboren, andere zu heilen, und nicht dazu, Soldat zu werden. Die Umstände haben mich in diese Uniform gesteckt, aber ich bedecke sie mit dem Kittel, der für meinen Beruf steht. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass in mir mehr v on einem Kämpfer steckt als in euch Burschen, die ihr zum Sold a ten geboren seid. Warum lasst ihr euch das gefallen? Warum?«
Keiner von uns gab eine Antwort. Er schüttelte sein a l tes, graues Haupt über uns, und ich vermute, er veracht e te uns wegen unseres Mangels an Mumm. »Nun denn, nehmt euren Freund mit und bringt ihn ins Wohnheim. Es ist nichts gebrochen, und geblutet hat er auch nicht. In zwei bis drei Tagen dürfte er wieder auf dem Damm sein.« Er wandte sich um und sprach direkt zu Gord. »Sie trinken eines von diesen Pülverchen, die ich Ihnen vo r hin gegeben habe, und morgen früh noch einmal eines. Sie werden sich davon ein bisschen schläfrig fühlen, aber Sie werden den Unterricht morgen schon überstehen. Und essen Sie weniger, Kadett! Wenn Sie nicht so dick w ä ren, hätten Sie den Schlägern das Leben ein bisschen schwerer machen oder ihnen wenigstens davonlaufen können. Wenn Sie schon Soldat werden wollen, dann sollten Sie auch wie ein Soldat aussehen und nicht wie ein Schankwirt!«
Gord erwiderte nichts, sondern ließ nur den Kopf noch ein bisschen tiefer hängen. Ob der Schärfe der letzten Worte des Doktors zuckte ich innerlich zusammen, o b wohl ich ihnen zustimmen musste. Gord bewegte sich ganz vorsichtig, als er vom Bett aufstand; ich konnte die Schmerzen, die ihm das bereitete, fast mitfühlen. Er stöhnte leise auf, als er seine Jacke anzog. Sie war ve r dreckt und voller Tannennadeln. Dieser Dreck und vor allem die Tannennadeln stammten ganz sicher nicht von der Bibliothekstreppe, so viel stand fest. Er fummelte an seinen Uniformknöpfen, als wolle er sie zumachen, doch dann ließ er die Hände sinken.
»Sie hätten nicht nach ihnen schicken müssen, Sir. Ich hätte auch allein zurückgehen können.« Das waren die einzigen Worte, die Gord zu dem Arzt sagte. Als Spink und ich versuchten, ihm beim Aufstehen zu helfen, mac h te er eine abwehrende Handbewegung. Er kam schwankend auf die Beine, stand einen Moment unsicher da und stapfte dann zur Tür. Spink und ich folgten ihm. Der Doktor schaute uns wortlos
Weitere Kostenlose Bücher