Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
auf ein paar schöne Ferientage fern der Akademie. Ich selbst hatte mich zwar nicht auf ein paar freie Tage, aber doch wenigstens auf etwas M u ße und Entspannung gefreut. Und jetzt wurde mir sogar das g e nommen. Ich seufzte, als ich in unsere Stube trat. Natred und Kort lagen bereits in der Koje und schliefen – oder taten zumindest so. Spink war am Waschstand und kühlte sein Gesicht mit einem feuchten Lappen. Diese nächtliche Ruhe war untypisch für unsere Stube. Es war die unbeha g liche Stille nach einem Kampf. Sie machte mich nervös.
Als ich meine Bücher ins Regal zurückstellte, stieß ich aus Versehen meinen Dewara-Stein vom Regal. Es g e lang mir, ihn mit einer Reflexbewegung aufzufangen, bevor er auf den Boden fiel, und für einen Moment stand ich da und wog ihn in der Hand. Ich dachte nach. Eine r seits war ich mir darüber bewusst, dass es unfair von mir war, auf Gord wütend zu sein. Es war eben leichter, als auf Spink oder gar Trist wütend zu sein. Gord eignete sich viel besser zum Sündenbock. Ich schaute hinunter auf den Stein in meiner Hand, und aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an all die Steine denken, die ich zu Hause bei meiner Sammlung gelassen hatte. Wie viele Male war ich ein potentielles Ziel für Sergeant D u ril gewesen? Was hatte er mir wirklich nahebringen wo l len mit a ll den Steinen? Oder geheimnisste ich da einen tieferen Sinn in etwas hinein, das für den Sergeant ledi g lich eine simple Übung in Wachsamkeit und Reaktion s schnelligkeit gewesen war?
Ich hielt immer noch den Stein in der Hand, als die Tür zu unserer Stube unsanft aufgestoßen wurde. Wir fuhren alle hoch. Nate öffnete die Augen, und Kort stüt z te sich auf einen Ellenbogen. Spink stand halb über das Waschbecken gebeugt, und das Wasser, das er sich ger a de ins Gesicht hatte klatschen wollen, rann zwischen den Fingern seiner zu einer Schale geformten Hände hi n durch. Ich drehte mich um, in der Erwartung, Gord geg e nüberzustehen. Ich brauchte einen Moment, um zu kapi e ren, dass es kein Kadettenoffizier war, der da im Tü r rahmen stand, sondern bloß Klein-Caulder. Regentropfen perlten von seinem Hut und tropften von seinem Cape auf unseren frisch geputzten Fußboden. Seine Nase war vor Kälte gerötet. Mit einem höhnischen Grinsen im G e sicht sagte er wichtigtuerisch: »Ich soll die Kadetten K e ster und Burvelle ins Krankenrevier bringen. Sofort.«
»Weswegen?«, fragte Spink.
»Wir sind doch gar nicht krank«, fügte ich ziemlich dämlich hinzu.
»Das weiß ich!«, sagte Caulder, ohne einen Hehl aus seiner Verachtung für uns zu machen. »Ihr sollt mi t kommen und diesen fetten Kadetten zurück nach Haus Carneston bringen. Der Doktor hat ihn wieder dienstfähig geschrieben.«
»Was? Was war denn mit ihm?«
»Nun kommt schon!«, spie Caulder angewidert aus. »Ich bringe euch zu ihm.« Als ich gehorsam meinen Stein ins Regal zurücklegte und mich anschickte, ihm zu folgen, fragte er plötzlich: »Was ist das?«
»Was?«
»Der Stein. Wozu ist er gut? Was ist das für ein Stein?«
Ich hatte genug von diesem Rotzlöffel. Sein Mangel an jeglichen Manieren und die Art und Weise, wie er mit der Autorität seines Vaters hausieren ging, kotzten mich an. »Über diesen Stein musst du nur wissen, dass er nicht dir gehört«, erwiderte ich scharf. »Gehen wir.«
Wenn ich jüngere Brüder anstelle von jüngeren Schwestern gehabt hätte, wäre ich nicht so verblüfft g e wesen über das, was als nächstes passierte. Caulder streckte blitzschnell die Hand nach dem Stein aus und schnappte ihn vom Regal weg.
»Gib ihn mir sofort wieder!«, blaffte ich ihn an, e m pört über sein respektloses Benehmen.
»Ich will ihn mir anschauen«, erwiderte er und drehte sich mit dem Stein in der Hand von mir weg. Er erinnerte mich an ein kleines Tier, das versucht, einen Bissen Na h rung zu verstecken, während es ihn gleichzeitig ve r schlingt. Seinen Auftrag schien er völlig vergessen zu haben.
»Was ist mit Gord?«, fragte Spink erneut.
»Jemand hat ihn geschlagen!« In seiner Antwort schwang Schadenfreude mit. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich war sicher, dass er lächelte. Wut kochte in mir hoch. Ich langte über seine Schulter, packte sein Handgelenk und drückte fest zu. Er ließ den Stein los, und ich fing ihn auf und legte ihn wieder an seinen Platz im Regal zurück.
»Gehen wir«, sagte ich zu ihm, während er zu mir aufblickte, zwischen Ungläubigkeit und Wut schwa n kend. Er rieb
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