Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
weil ich erst jetzt begriff, was mir schon längst hätte klar sein sollen. Indem Gord nicht von seiner Geschichte abwich, sorgte er dafür, dass die Schlacht auf seinem Territorium blieb. Die, die ihn geschlagen hatten, konnten nicht offen damit prahlen. Natürlich würden sie ihren Freunden davon erzählen. Aber wenn Gord sich weigerte zuzugeben, dass er verprügelt worden war, wenn er sich weigerte, eine Niederlage gegen sie einz u gestehen, stahl er ihnen damit einen Teil ihres Triu m phes.
Während ich weiter nachgrübelte, verlangsamte ich meine Schritte und fiel ein Stück hinter die beiden z u rück. Indem ich beklagte, dass sowohl Spink als auch Trist eine natürliche Gabe zum Führen hatten, die mir fehlte, hatte ich etwas Wichtiges übersehen. Trists F ä higkeit, Gefolgsleute um sich zu scharen, beruhte auf seinem strahlenden Charisma. Dessen Wirkung hatte ich bereits bei Klein-Caulder gesehen, mit verheerenden Folgen. Spink war zäh und stur und der Sohn eines Kriegshelden. Er gab und forderte große Loyalität. Di e jenigen von uns, die ihm folgten, ließen sich von solchen Dingen beeindrucken, aber je mehr ich darüber nac h dachte, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass er nicht immer weit genug vorausschaute und darüber nachdac h te, wozu seine Handlungen führen konnten. Heute Abend hatte ich an ihm bewundert, wie er sich gegen Trist b e hauptete, trotz des Größenunterschieds, und es hatte mich sehr beeindruckt, dass er sich unkonventioneller Mittel bediente, um den Stärkeren zu bezwingen und seinem Willen zu unterwerfen. Aber jetzt musste ich die weitre i chenden Folgen dieser Handlungen bedenken. Indem sie ihre Rivalität zu einer körperlichen Auseinandersetzung hatten eskalieren lassen, hatten sie alle Jungen in unserer Truppe in eine verzwickte Lage gebracht. Wir hatten alle gesehen, wie sie gegen eine der wichtigsten Regeln der Akademie verstoßen hatten, und keiner von uns hatte sich an seinen Schwur gehalten und den Verstoß geme l det. Das störte mich, obwohl ich wusste, dass ich mir noch schändlicher dabei vorgekommen wäre, wenn ich losgerannt wäre, um den Verstoß zur Anzeige zu bringen.
Allein Gord hatte die weise Voraussicht besessen, sich diesen Konflikt zu ersparen. Sogar jetzt noch, arg ramp o niert und einen höllischen nächsten Tag vor Augen, zwang er seinen Körper dazu, sich seinem Intellekt zu unterwerfen. Wegen seiner Leibesfülle hatte ich ihn für einen Schwächling gehalten. Aber wenn ich es mir recht überlegte, langte er bei den Mahlzeiten eigentlich auch nicht kräftiger zu als wir anderen. Vielleicht war er ei n fach dazu geboren, dicker zu sein als der Durchschnitt.
Und vielleicht stellte er eine stille Führerschaft zur Schau, wie ich sie bisher noch nicht erlebt hatte. Auch wenn sein einziger Gefolgsmann er selbst war, bewu n derte ich seine Voraussicht. Da nahm plötzlich ein G e danke in mir Gestalt an, der schon die ganze Zeit in me i nem Unterbewusstsein rumorte. Ich hatte immer g e dacht, Gord hätte sich an Spink gehängt, weil er den kleinen Kadetten bewunderte. Aber vielleicht verhielt es sich ja so, dass Gord, indem er Spink seine Hilfe angeboten ha t te, nicht Spink gefolgt war, sondern ihm seine Führe r schaft angeboten hatte. Wenn also Spink Gord folgte und ich Spink, war dann nicht in Wirklichkeit Gord derjenige, den ich als meinen Befehlshaber betrac h tete?
Wir hatten fast den Kiesweg erreicht, der direkt zu Haus Carneston führte, als uns Caulder entgegengerannt kam, offenbar auf dem Weg zum Krankenrevier. Er blieb stehen und drehte sich um, vom eigenen Schwung noch ein Stückchen rückwärts getragen. »Scheint heute ein Unglückstag für die Söhne von neuen Adeligen zu sein!«, schrie er uns zu. »Ich geh den Doktor holen!« Er wandte sich um und rannte weiter.
»Das klingt gar nicht gut«, sagte ich zu Spink.
»Er kam aus der Richtung des Kutschpfads«, keuchte Gord. »Lasst uns nachschauen, was passiert ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Du bist völlig fertig, Gord. Geh du nach o ben und leg dich ins Bett. Spink, pass du auf, dass er tut, was ich sage. Ich werde inzwischen h e rausfinden, wovon Caulder da geredet hat.«
Ich hatte erwartet, dass Spink mir widersprechen oder dass Gord sagen würde, er schaffe es schon allein zurück ins Wohnheim. Stattdessen nickte Gord nur, und Spink sagte: »Wenn du nicht bald zurückkommst, werde ich nach dir suchen. Pass auf dich auf!«
Es war schon seltsam, eine solche Ermahnung auf dem
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