Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
hinterher.
Draußen hatte der Regen aufgehört, aber die Wipfel der blattlosen Bäume bogen sich noch immer im heftigen Wind.
»Was ist passiert? Wo warst du? Warum bist du rau s gegangen?«
Als Gord keine Antwort gab, sagte Spink: »Ich habe Trist besiegt. Er hat sich bei mir entschuldigt. Er hätte sich auch bei dir entschuldigt, wenn du da gewesen wärst.«
Gord war nie besonders gut zu Fuß gewesen. Wie i m mer trödelte er h inter uns her, und als er plötzlich doch etwas sagte, ganz leise, musste ich mich umdrehen und stehenbleiben, um seine Antwort bei dem Heulen des Windes hören zu können. »Ach, und damit sind alle Pr o bleme gelöst, nicht wahr? Ich bin sicher, dass er sich jetzt nie mehr über mich lustig machen wird. Danke, Spink.«
Es war das erste Mal, dass ich Gord sarkastisch oder verbittert erlebte. Auch Spink blieb jetzt stehen. Gord ging weiter, beide Arme schützend über seiner offenen Uniformjacke und seiner Wampe verschränkt. Ohne i n nezuhalten drängte er sich zwischen uns hindurch.
Spink und ich wechselten einen Blick und liefen hinter Gord her. Spink fasste ihn beim Ellenbogen. »Ich will trotzdem wissen, was vorgefallen ist«, sagte Spink. »Ich will wissen, warum du einfach so rausgegangen bist.«
Mir kam plötzlich der Gedanke, dass ich die Antwort auf diese Fragen möglicherweise lieber gar nicht wissen wollte. Gord schüttelte Spinks Hand ab. Er ging weiter, während er sprach, aber er schnaufte dabei, weil er b e reits jetzt außer Atem war. »Ich bin weggegangen, weil ich nicht Zeuge sein wollte, wie einer von uns gegen die Hausordnung der Akademie verstößt. Weil ich das nach dem Ehrenkodex hätte melden müssen.« Seine Stimme klang gepresst, ob vor Wut oder vor Schmerzen, ve r mochte ich nicht zu sagen. »Ich wollte in die Bibliothek. Als ich dort ankam, war sie zu. Und dann bin ich halt ›die Treppe runtergefallen‹. Daraufhin ist Caulder losg e rannt und hat es gemeldet, und ein paar Leute sind g e kommen und haben mich aufs Krankenrevier gebracht. Als der Doktor mich bat, ich solle ihm die Namen von zwei Kadetten nennen, die bereit wären, mich zurück auf meine Stube zu bringen, hab ich ihm eure genannt. Aber nur, weil er mich sonst heute Abend nicht aus dem Kra n kenrevier entlassen hätte. Und ich freue mich sehr darauf, dass morgen Abend meine Familienkutsche kommt und mich abholt.« Er schaute keinen von uns beiden an. Wir schritten langsam neben ihm her.
»Warum bist du wütend auf mich?«, fragte Spink mit leiser, gepresster Stimme. Mich interessierte viel mehr, was ihm wirklich zugestoßen war, aber ich schwieg, weil ich wusste, dass ich, solange die beiden ihren Konflikt nicht gelöst hatten, keine Antwort bekommen würde.
»Weißt du das denn nicht?« Es war eigentlich keine Frage. Gord wollte Spink bloß dazu bringen, dass er es zugab.
»Nein, das weiß ich nicht! Ich dachte, du wärst mir dankbar, weil ich f ür dich aufgestanden bin, als du dazu nicht selbst das Rückgrat hattest!« Spinks Wut war mit den Händen zu greifen.
Gord schwieg lange, während wir weitergingen. Als er schließlich sprach, bekam ich den Eindruck, dass er die Zeit gebraucht hatte, um seinen Zorn zu zügeln und seine Worte zu bedenken. »Ich bin ein erwachsener Mann, Spink. Ich bin fett, und vielleicht ist das ein Fehler, vie l leicht bin ich aber auch so, weil der gütige Gott mich so haben wollte. Aber deswegen bin ich kein Kind und auch nicht weniger in der Lage, über mein Leben zu besti m men, als wenn ich dünn wäre. Du meinst, dass ich mich gegen die zur Wehr setzen sollte, die gemein zu mir sind. Der Arzt im Krankenrevier meint, ich sollte mich ändern, damit sie weniger Vorwand haben, gemein zu mir zu sein. Ich aber meine, dass ich weder das Eine noch das Andere tun sollte.«
Gord blieb stehen. Dann verließ er jäh den Kiespfad und ging quer über den Rasen zu einer Eiche. Heftig a t mend lehnte er sich gegen ihren schwarzen Stamm. Wir schwiegen, und von den Zweigen fielen schwere Tropfen auf uns herab. Als ich zu ihm hinübersah, quälte mich am Rand meines Bewusstseins irgendeine Erinnerung an eine Erinnerung. Aber mir wollte nicht einfallen, was es war. Dann sprach Gord weiter, und das halb erinnerte Bild verflüchtigte sich wieder.
»Ich finde, dass die, die mich schikanieren oder hä n seln, diejenigen sind, die dazu gedrängt werden sollten, sich zu ändern. Ich mache mir keine Illusionen hinsich t lich meiner Person. In einer körperlichen Auseinande r
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