Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
den Kopf und schaute ihm geradewegs in die Augen. »Was ist mit dem Kampf in unserem Wohnheim?«, fragte ich. »Weder Spink noch ich haben ihn gemeldet.«
Er lächelte fast, schüttelte freundlich den Kopf und sagte zu meiner Verblüffung: »Ach, lass mal, Nevare. In jeder Gruppe von Männern, ob jung oder alt, kommt es zu diesen Hahnenkämpfen, zu diesem Rangeln und Ze r ren darum, wer die Führung innehat. Spink hier war so vernünftig, das in Grenzen zu halten. Es wird euch vie l leicht überraschen, wenn ich euch sage, dass ich zu me i ner Zeit so einige Faustkämpfe gesehen habe und dass die meisten von ihnen weit blutiger und schmutziger w a ren als das, was ihr mir geschildert habt. Ich glaube nicht, dass irgendjemandes Ehre dadurch befleckt worden ist. Nein. Was der Ehrenkodex zu verhindern versucht, ist das, was eurem Freund Gord oder dem jungen Leutnant widerfahren ist. Nach dem, was ihr sagt, sind sie brutal zusammengeschlagen worden, und das nicht von einem Einzelnen, mit dem sie zufällig zusammengestoßen sind, sondern von einer Gruppe von Kadetten, die sich ihre Opfer bewusst ausgesucht haben. Was eurem Freund Gord zugestoßen ist, mag vielleicht aus der Situation heraus geschehen sein, aber bei Tiber klingt es mir ganz nach einem Komplott. So etwas hätte gemeldet werden müssen. Ich bin immer noch entsetzt, dass der Arzt es nicht für nötig befunden hat, dich gründlicher zu ve r nehmen, Nevare. Ich fürchte, dass die Drittjährler, von denen du sprachst, als Zeugen weit entgegenkommender und mitteilsamer gewesen sein werden. Dass du dem nicht widersprochen hast, was sie ausgesagt haben we r den … nun ja. Ich denke, ich werde ein Wörtchen mit den Arzt reden, wenn ich euch zwei zur Akademie z u rückbringe.«
Für einen Moment war ich sprachlos und schaute zu Boden. Wenn ich irgendetwas nicht wollte, dann das, aber mir fiel kein gescheiter Grund ein, um ihn davon abzubringen. Einen Augenblick später wurde mir zu meiner Schande bewusst, dass ich Angst hatte – wenn er den Doktor mit der Sache konfrontierte und ihn zwang, ihr auf den Grund zu gehen, würden die Drittjährler wi s sen, dass ich der Verursacher des Konflikts war, und sich womöglich an mir rächen.
Als ich den Blick wieder hob, sah ich, dass mein O n kel mich anschaute und nickte. »Du bist zu ehrlich, N e vare. Alles, was du denkst, steht dir offen ins Gesicht geschrieben. Aber dies ist eine Sache, die zu wichtig ist, als dass du und Spink und Gord sie selbst regeln könnt, wenngleich ich fürchte, dass letztlich ihr allein die Fo l gen meines Versuchs, sie zu regeln, werdet tragen mü s sen. Aber versuchen muss ich es – und dann alles tun, was in meiner Macht steht, um euch zu schützen. Ihr seid Studenten an der Königlichen Akademie. Wenn dort schon keine Gerechtigkeit herrscht, was können wir uns dann noch erhoffen, wenn ihr einst als Soldaten des K ö nigs in die größere Welt hinausgeht?«
Er klang so ernst und zugleich so traurig, dass mir ein Schauer banger Vorahnung über den Rücken lief.
»Was befürchtest du?«, fragte ich ihn, und meine Stimme war ein heiseres Flüstern.
»Ich befürchte im Großen, was ihr im Kleinen erfahrt. Ich befürchte, d ass der alte Adel es auf eine Machtprobe mit den Kriegsherren des Königs ankommen lässt, und dass dieser Machtkampf am Ende womöglich in einen blutigen Bürgerkrieg ausarten wird.«
»Aber warum sollte es dazu kommen?«, fragte ich, z u tiefst erschrocken.
Und Spink fügte hinzu: »Selbst wenn es die alten Edelleute stört, den Adelsstand mit uns teilen zu müssen, warum sollten sie zu diesem äußersten Mittel greifen, dem Mittel blutiger Gewalt? Ich finde, es gibt Land im Überfluss, das der König seinen neuen Edelleuten g e währen kann, und an Ehre gibt es meines Wissens auch keinen begrenzten Vorrat, sodass irgendjemand befürc h ten müsste, zu wenig davon abzubekommen.«
»Es geht nicht um Land, denn der Großteil der alten Edelleute betrachtet die Ländereien, die euren Vätern zugewiesen wurden, ohnehin als Ödland und Wüste. Und es geht auch nicht um Ehre, denn obgleich alle Adeligen sie besitzen sollten, halten nur wenige ihre Erlangung für ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Nein, meine jungen Freunde, ich fürchte, hier geht es allein um Geld, um schnöden Mammon. Dem König fehlt es daran; der alte Adel hat es, wenn auch nicht mehr in der Menge wie ehedem. Wenn der König versucht, es aus uns herausz u quetschen, so, wie es in den
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