Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
wie ich, als ihr Vater die Tür zumachte, bevor sie uns in das Arbeit s zimmer folgen konnte. Sie war einfach hinter uns her gelaufen und hatte offenbar damit gerechnet, mit in die Runde einbezogen zu werden. Doch just als sie hinter uns durch die Tür schlüpfen wollte, trat ihr Vater ihr in den Weg und sagte: »Gute Nacht, Epiny, schlaf gut. Wir s e hen uns morgen beim Frühstück.« Dann schlug er ihr einfach die Tür vor der Nase zu. Spink wirkte bestürzt, verbarg es aber gut. Mein Onkel ging zu seiner Anrichte und schenkte sich einen Weinbrand ein. Nach einem ku r zen Innehalten, während dem er sich zu überlegen schien, ob er uns auch einen anbieten sollte, goss er zwei weitere kleine Gläser voll. Er bot uns zwei Sessel an; er selbst nahm auf dem Sofa Platz. Sobald wir saßen, schaute er uns direkt an und sagte: »Nevare, Spinrek, ich denke, es ist Zeit, dass ihr mir erzählt, was immer es ist, von dem ihr meint, dass ihr es mir nicht erzählen solltet.«
»Ich habe nichts Falsches getan, Sir«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen, doch noch während ich die Worte sagte, fühlte ich schon die Gewissensbisse. Ich hatte z u gesehen, wie Spink und Trist kämpften, und hatte es nicht gemeldet. Und was noch schlimmer war, ich hatte den Verdacht, dass Leutnant Tiber ungerecht behandelt wurde, aber ich hatte diesen Verdacht nicht geäußert. Mein Onkel schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, denn er schwieg bloß und wartete. Ein Schreck durchfuhr mich, als Spink plötzlich zu reden begann.
»Es ist schwierig, den richtigen Anfang zu finden, Sir. Aber ich glaube, ich würde sehr gern Ihren Rat in einer bestimmten Sache hören.« Spink sprach stockend und schaute unsicher zu mir herüber, als erheische er meine Erlaubnis.
Mein Onkel las seinen Blick richtig. »Sprechen Sie nur frei heraus Spink. Oder darf ich du sagen?«
»Es wäre mir eine Ehre, Sir.«
»Nun, Spink, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sollten nie irgendjemandes Erlaubnis nötig haben.«
Ich senkte den Blick vor dem Tadel meines Onkels. Es widerstrebte mir, dass Spink meinem Onkel alles erzäh l te, aber ich konnte jetzt nichts mehr dagegen tun. Ohne Ausschmückungen oder Entschuldigungen e rzählte Spink von seinem Kampf mit Trist und danach, wie wir zum Krankenrevier gegangen waren, um Gord abzuholen, und dass wir sicher waren, dass Kadetten aus dem alten Adel Gord zusammengeschlagen hatten. Einmal in Fahrt, e r zählte er auch von den ständigen Schikanen und Demüt i gungen, denen wir am Anfang des Jahres ausgesetzt g e wesen waren, und von dem sich daran anschließenden Kampf um die Flagge und der Aussonderung. Und als ich daraufhin das Thema Tiber nicht sofort von selbst aufs Tapet brachte, zwang mich Spink dazu, indem er sagte: »Und Nevare befürchtet eine noch schlimmere Ung e rechtigkeit gegen einen Kadetten aus dem neuen Adel.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu sprechen. Ich begann damit, dass ich sagte, ich hätte lediglich einen Verdacht, aber keinen echten Beweis. Ich sah, dass der Blick meines Onkels sich daraufhin verfinsterte, und konnte nicht umhin, mir selbst einzugestehen, dass meine Worte nichts anderes waren als der Vorwand eines Schwächlings, den Mund zu halten. Mein Onkel sagte: »Ich kenne Lord Tiber von Alt-Thares, nicht gut zwar, aber gut genug, um zu wissen, dass er nicht trinkt, wie auch schon sein Vater, der niemals einen Tropfen Alk o hol anrührte. Ich bezweifle, dass sein Soldatenbruder trinkt, und ich bezweifle daher auch, dass sein Sohn tri n ken würde. Es mag sein, dass ich mich täusche. Aber entweder hat Leutnant Tiber nicht nur gegen eine Ak a demievorschrift verstoßen, sondern auch gegen die Fam i lientradition, oder aber er ist Opfer einer Verschwörung. Diese Sache bedarf der Klärung. Ich bin enttäuscht, N e vare, dass du nicht aufgefordert wurdest zu sagen, was du weißt, bevor eine Disziplinarstrafe von solcher Tragweite gegen ihn verhängt wurde. Die Sache muss richtiggestellt werden, Nevare. Das weißt du.«
Ich nickte. Ich wusste es, und ich empfand eine sel t same Erleichterung, als er es in Worte fasste. Ich rechn e te damit, dass er uns beide dafür rügen würde, dass wir gegen den Ehrenkodex verstoßen hatten, und dass er uns raten würde, freiwillig aus der Akademie auszuscheiden. Ich wusste, mir würde nichts anderes übrig bleiben, als seinem Rat zu gehorchen. Nicht nur, weil er mein Onkel war, sondern weil er nur das aussprechen würde, von dem ich selbst wusste, dass es die
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