Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Derartiges hatte ich noch nie erlebt.
Caleb war erstaunt, als er hörte, dass ich so wenig vom Dunkelabend wusste. Ich glaubte, er wolle mich auf den Arm nehmen, als er mir erzählte, dass am Dunkelabend alle Huren eine Maske trugen und ihre Gunst gratis g e währten, und dass einige Damen aus gutem Hause sich in jener Nacht heimlich aus dem Haus stahlen und so taten, als seien sie Freudenmädchen, damit sie die Gunst fre m der Männer kosten konnten, ohne ihren Ruf zu gefäh r den. Als ich seine Worte anzweifelte, zeigte er m ir me h rere unanständig illustrierte Geschichten in einigen seiner Groschenheftchen. Wider besseres Wissen las ich die Berichte von Frauen, die sich in einer solchen wilden Nacht von wildfremden Männern hatten verführen la s sen, und empfand sie als ebenso abstoßend, wie ich sie für unwahrscheinlich hielt. Welche Frau, die ihre fünf Sinne beisammen hatte, würde ihr sicheres und gemütl i ches Heim verlassen, nur um sich in einer Nacht der z ü gellosen Begierde hinzugeben?
Ich fragte Natred und Kort, ob sie je von dergleichen gehört hatten. Zu meiner Überraschung bejahten sie me i ne Frage. Natred sagte, seine älteren Vettern hätten ihm davon erzählt. Kort fügte hinzu, sein Vater habe gesagt, das sei ein Überbleibsel von einem der Feste zu Ehren der alten Götter. »Es ist hauptsächlich ein westlicher Brauch. Die Tempel der alten Götter stehen in vielen der älteren Städte immer noch, und die Menschen dort eri n nern sich an weit mehr von den alten Göttern und ihren Bräuchen. Besonders an die Feste. Der Dunkelabend war einst ein Fest, das zu Ehren eines Frauengottes begangen wurde. So habe ich es jedenfalls gehört. Meine Mutter hat meinen Schwestern immer Geschichten vom Dunke l abend erzählt. Nicht von Frauen, die sich als Huren ma s kiert des Nachts auf den Straßen herumtreiben, sondern von Mädchen, die auf Dunkelabendfeiern maskierten Göttern begegnen und Geschenke von ihnen bekommen, zum Beispiel die Gabe, Stroh zu Gold zu spinnen oder zwei Zoll über dem Erdboden zu tanzen. Kleine hübsche Geschichten halt.
Und dann, zwei oder drei Jahre später, erwischte mein Vater meine drei Schwestern dabei, wie sie im Dunkeln im Garten tanzten, bloß mit ihren Schlüpfern bekleidet. Er war sehr ungehalten darüber, aber meine Mutter fragte ihn, was daran denn Schlimmes sei, solange keine jungen Männer in der Nähe seien. Er sagte, es sei die Idee, die dahinterstecke, und verbat ihnen, so etwas noch einmal zu machen. Aber« – Kort beugte sich näher zu uns he r über, als befürchte er, jemand anderes könnte ihn hören – »ich glaube, sie begehen den Feiertag immer noch auf diese Weise.«
»Auch meine Talerin?«, fragte Natred gespannt. Ich vermochte nicht zu erkennen, ob er entsetzt oder entzückt war.
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Kort. »Aber ich habe gehört, dass viele Frauen ihre ganz eigenen Rituale und Gebräuche für den Dunkelabend haben. Manchmal denke ich, es gibt überhaupt vieles, das wir von unseren Frauen nicht wissen.«
Seine Worte ließen mich sofort an meine Carsina de n ken. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie Carsina halbnackt in einem dunklen Garten tanzte. Ob sie so e t was tun würde? Ich wusste plötzlich nicht, was mir lieber wäre: dass sie es tat, oder dass sie es nicht tat. Gab es Riten und Gebräuche, die Frauen begingen und von d e nen wir Männer nichts wussten? Waren sie alle zu Ehren des gütigen Gottes, oder beteten Frauen immer noch heimlich an den Altären der alten Götter? Solche Fragen regten meine Neugier auf den Dunkelabend in Alt-Thares weiter an. Frei und unbeaufsichtigt in der großen alten Stadt mit meinen Freunden und Kameraden herumlaufen zu können, ein Mann unter Männern in einer wilden Festnacht – das war etwas, das ich mir nie auch nur im Traum vorgestellt hatte. Ich zählte mein Taschengeld, das ich gehortet hatte, und hatte das Gefühl, der Tag würde niemals kommen.
In der Mitte jener Woche artete das, was als ausgela s sene Schneeballschlacht mit den Erstjährlern von altem Adel aus Haus Drake begonnen hatte, zu einer hässl i chen, verbissen geführten Schlacht aus, bei der Eis und Steinbrocken die ursprünglichen Wurfgeschosse erset z ten. Ich war in der Bibliothek gewesen und erfuhr davon erst am Abend durch Rory, als unsere Patrouille sich am Arbeitstisch im Gemeinschaftsraum versammelte. Rory hatte ein blaues Auge, und Kort war mit einer geschwo l lenen Lippe nach Hause
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