Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
eine Treppe h i naufging. Aber irgendwie schien in ihm jetzt etwas Stä h lernes zu sein. Als er zu uns gestoßen war, hatte er mitg e lacht, wenn die Leute sich über sein Gewicht lustig g e macht hatten, und manchmal hatte er sich sogar über sich selbst lustig gemacht. Doch jetzt blieb er stumm und starrte diejenigen, die ihn hänselten, bloß an. Das schien manche wütend zu machen, als habe er kein Recht, seine Würde zu wahren und sich zu weigern, ihren Spott kla g los über sich ergehen zu lassen. Jetzt schaute er jeden Einzelnen von uns an, die wir dort rings um den Tisch versammelt waren, und mir wurde plötzlich klar, dass er nicht bloß in Mathe gut war. Hinter seinen kleinen Schweinsaugen funkelte ein schärferer Intellekt, als ich ihm zugetraut hatte. Er leckte sich seine feisten Lippen, als überlege er, ob er sprechen sollte oder nicht. Und dann sprudelten die Worte aus ihm heraus, aber nicht in einem wilden Schwall, sondern in einer wohlformulie r ten, gut dosierten Kaskade des Hohns.
»Ich sagte blind, Rory, nicht töricht. Ich denke nicht, dass es töricht von uns und unseren Vätern ist, einem Mann treu ergeben zu sein, von dem wir so enorm prof i tiert haben. Aber wir sollten nicht blind sein für das, was er dadurch gewinnt, noch für das, was das bei anderen anrichtet. Hat keiner eurer Väter je mit euch über Politik diskutiert? Wenn wir Geschichtsunterricht haben, hört ihr da eigentlich zu? Wir sollen Offiziere und Gentlemen sein, wenn unsere Ausbildung abgeschlossen ist. Loyal i tät ist gut und schön, aber sie ist noch besser, wenn sie von Verstand untermauert ist. Mein Hund ist mir treu ergeben, und wenn ich ihn auf einen Bären hetzen würde, würde er mir gehorchen, ohne sich zu f ragen, ob ich weiß, was für ihn das Beste ist. Aber wir sind keine Hu n de, und wenn ich auch glaube, dass ein Soldat dorthin gehen muss, wohin sein Vorgesetzter ihn geschickt hat, und tun muss, was ihm befohlen wurde, glaube ich nicht, dass er vorwärtsmarschieren muss, ohne zu wissen, was die treibende Kraft hinter den Entscheidungen seines Vorgesetzten ist.«
Caleb war noch nie ein besonders heller Kopf gew e sen, und an diesem Tag kam er zu dem Ergebnis, dass Gord Worte ihn beleidigt hatten. Er sprang auf und beu g te sich über den Tisch. Seine lange, hagere Gestalt mac h te es ihm schwer, bedrohlich zu wirken, aber er ballte die Faust und sagte: »Willst du damit sagen, mein Vater ist dumm, nur weil er mit mir nicht über Politik geredet hat? Nimm das sofort zurück!«
Gord stand nicht auf, aber er gab auch nicht nach. Er lehnte sich zurück, als wolle er Caleb den Wind aus den Segeln nehmen, aber seine Stimme blieb fest, als er e r widerte: »Ich kann das nicht zurücknehmen, Caleb, weil es nicht das ist, was ich gesagt habe! Ich habe allgemein gesprochen. Wir alle haben, als wir hierherkamen, g e wusst – das hoffe ich jedenfalls –, dass unser erstes Jahr ein Ausleseprozess ist. Wir haben damit gerechnet, sch i kaniert zu werden, strenge Lehrer zu haben, schlechtes Essen und Unmengen von Hausaufgaben zu bekommen, Märsche und Drillübungen absolvieren zu müssen und Pflichten aufgehalst zu bekommen, die kein Mensch, der bei gesundem Verstand ist, sich freiwillig auferlegen würde. Dennoch nehmen wir das alles auf uns, weil wir genau wissen, dass sie es uns absichtlich schwieriger und anstrengender machen, als sie es eigentlich müssten. Sie erhoffen sich davon, dass die Schwachen und auch die nicht hundertprozentig Entschlossenen sich dadurch en t mutigen lassen und von sich aus aufgeben. Besser, sie jetzt auszusondern, als sie später in der Schlacht fallen zu sehen, wo durch ihre Schwäche andere Männer ebenfalls ihr Leben verlieren! Also gehorchen wir, aber wir geho r chen nicht blind. Das ist es, was ich damit sagen will. Dass wir aushalten, was wir aushalten, weil wir den Grund dafür kennen. Und wenn ich einst Kavallaoffizier im Feld bin, erwarte ich, dass ich dort das Gleiche tun werde. Ich werde den Befehlen meines Vorgesetzten g e horchen, aber ich hoffe, ich werde intelligent genug sein, um die Gründe für seine Befehle zu erkennen.«
Er schaute jeden von uns an. Wider Willen hingen wir an seinen Lippen. Er nickte, wie zur Anerkennung, und fuhr fort, fast so, als halte er u ns einen Vortrag: »Und jetzt kommen wir zurück auf Orons Frage: Warum ha s sen uns die Erstjährler von altem Adel so sehr, obwohl wir doch alle hier Kadetten sind? Die Antwort lautet: Weil man es ihnen so
Weitere Kostenlose Bücher