Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
sollen auch Männer sein, bei denen ich sie in guten Hä n den weiß und die sie vielleicht sogar eines Tages zu li e ben lernen. Oberst Stiet macht kein Geheimnis daraus, dass er beide Mädchen gern als zukünftige Ehefrau von Caulder sehen würde. Aber Lady Burvelle hofft, für be i de Erstgeborene zu finden, und, wie ich sie kenne, ve r mute ich, dass ihr das auch gelingen wird.«
»Aber …«, begann ich, aber mein Onkel hob die Hand.
»Hier draußen ist es zu kalt zum Diskutieren, Nevare. Ich habe dich ohnedies schon viel länger vom Lernen abgehalten, als ich das vorhatte, und du hast mir vieles gesagt, worüber ich nachdenken muss. Du solltest jetzt zu Bett gehen. Wenn ich mich nicht irre, ist in den Wohnheimen bald Zapfenstreich. Versuch deine Sorgen einstweilen beiseite zu schieben und denke möglichst nur an deine Prüfungen, denn das ist das Einzige, wofür du im Moment wirklich etwas tun kannst. Schreib mir und sei gewiss, dass ich, wenn ich nicht täglich von dir höre, sehr schnell wieder hier erscheinen werde.«
Und mit diesen Worten stapfte er davon, zurück zu seiner Kutsche. Erst jetzt merkte ich, dass meine Zehen vor Kälte ganz taub waren. Ich hastete die Eingangstre p pe von Haus Carneston hinauf und meldete mich bei Se r geant Rufet zurück, denn ich war ein bisschen spät dran. Er entschuldigte mich, als er hörte, dass ich Familienb e such gehabt hatte, und ich stieg die schwach beleuchtete Treppe hinauf. Auf dem letzten Absatz traf ich Spink an, der wie immer auf dem Stuhl stand und sein Mathebuch gegen das Licht der Notbeleuchtung hielt. Er sah zehn Jahre älter aus als noch zu Anfang des Jahres.
»Mein Onkel hat mich zu sich gerufen«, sagte ich o h ne Vorrede. »Er ist in die Akademie gekommen, weil er meine Briefe nicht bekommen hat.«
»Verachtet er mich?«, fragte Spink sofort.
Ich erzählte ihm alles, was ich mit meinem Onkel b e sprochen hatte. Ich ersparte ihm nichts; ich hielt es für besser, wenn er gleich wusste, dass seine Chancen, meine Base für sich zu gewinnen, äußerst gering waren. Er nickte, und die Spur einer Hoffnung trat in sein Gesicht, als ich ihm sagte, dass mein Onkel sich bei Oberst Stiet für ihn einsetzen würde. Doch diese Hoffnung ve r schwand sogleich wieder, als er mir anvertraute: »Ihre Briefe an mich sind sehr liebevoll. Ich bezweifle, dass er, wenn er sie liest, glauben wird, dass sie solche Dinge schreiben würde, wenn ich sie nicht dazu ermuntert hätte. Aber ich schwöre, das ist die Wahrheit, Nevare.«
»Ich glaube dir ja«, sagte ich. »Aber ich befürchte das Gleiche wie du: dass er denken wird, du hast Epiny dazu angeregt.«
»Nun. Dagegen kann ich nichts machen«, sagte er. Seine Worte waren gelassen, aber seine Stimme klang verzweifelt.
»Du solltest jetzt ins Bett gehen, Spink. Schlaf weni g stens einmal in dieser Woche richtig. Sonst siehst du am Ende dieser Woche noch wie ein Gespenst aus.«
»Ich muss mich einfach ranhalten. Ich muss unbedingt die Gleichungen können. Wenn ich sie schon nicht kapi e re, will ich sie wenigstens auswendig können.«
Ich blieb noch einen Moment bei ihm stehen, dann sagte ich: »Also, ich für mein Teil gehe jetzt schlafen.«
»Gute Nacht.« Er ließ sich nicht von seiner »Nach t schicht« abbringen.
Im dunklen Gemeinschaftszimmer lagen meine B ü cher noch so auf dem Tisch, wie ich sie zurückgelassen hatte. Ich packte sie im Dunkeln zusammen und brachte sie auf mein Zimmer.
Ich stellte sie zurück ins Regal und zog mich neben meinem Bett aus. Meine Sachen ließ ich einfach auf den Boden fallen. Ich war einfach zu müde, um sie jetzt noch ordentlich wegzuräumen. Einen Moment lauschte ich den regelmäßigen Atemzügen meiner Freunde, dann fiel ich ins Bett und schlief auf der Stelle ein.
Die verbleibenden Tage bis zu den Sektionsprüfungen vergingen unendlich zäh und huschten gleichzeitig nur so an mir vorbei. Ich fand es gemein von Hauptmann Infal, dass er das Gelernte nicht mit uns wiederholte, sondern bis zum Schluss, bis zum Tag der Prüfung, stur neuen Stoff durchnahm. Ich hatte das Gefühl, dass mein Gehirn zwar mit Daten u nd Fakten und Namen vollgestopft war, mir aber jedes Verständnis zum Verlauf der einzelnen Schlachten fehlte, ganz zu schweigen von der Gesam t strategie, die dahinter steckte.
Ein sehnlichst erwarteter Brief von Carsina kam, wie immer säuberlich eingefaltet in einen Brief von meiner Schwester. Ich öffnete ihn, und während der ersten zwei Seiten heiterten mich
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