Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
meinem Onkel, aber ich hatte mich auch auf die Gel e genheit gefreut, Alt-Thares im Festtagsputz mit meinen Kameraden zu besuchen. Nach einem Moment des He r umdrucksens gestand ich das meinem Onkel, der herzlich lachte und sagte: »Natürlich! Wie konnte ich das verge s sen! Ich war schließlich selbst einmal jung. Vergnüge dich nach Kräften, Nevare, aber sei auch auf der Hut. Am Dunkelabend treibt sich in der Stadt allerlei Gelichter herum.«
Ich zögerte einen Moment, doch dann nahm ich me i nen Mut zusammen und fragte: »Stimmt es, was die a n deren Jungen mir über die Frauen und den Dunkelabend erzählt haben?«
Mein Onkel brach darauf in so schallendes Lachen aus, dass der Nachtwächter auf seiner Frührunde sich erschrocken umdrehte. Ich s pürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Ich war sicher, dass meine Schulkam e raden mir einen Bären aufgebunden hatten. Als mein Onkel wieder sprechen konnte, erwiderte er fröhlich: »Es stimmt und es stimmt nicht, wie die meisten Festtagstr a ditionen. Zu einer Zeit, vor Generationen, gingen mit der Langen Nacht verschiedene heidnische Gebräuche ei n her, und die Frauen, die den alten Göttern als Priesteri n nen dienten, sollen angeblich die Gunst eines jeden Ma n nes gesucht haben, der ihnen gefiel. Es gab eine alte L e gende, die besagte … was war es noch gleich? Ach ja, dass sie in jener Nacht des Jahres die Göttinnen selbst in Menschengestalt waren und deshalb nicht an die Regeln und Vorschriften gebunden waren, an die die gewöhnl i chen Sterblichen gebunden sind. Heute dienen wir alle dem gütigen Gott, und es vergeht nicht ein Tag, an dem ich ihm nicht dafür danke, dass wir von Ritualopfern und Narbeneiden und rituellen Auspeitschungen befreit sind. Das waren schlimme Zeiten, und wenn du weit genug in unserer Familienchronik zurückgehst und die Tagebücher der Soldaten liest, wirst du feststellen, dass die einfachen Menschen derlei Praktiken schon damals als eine Bürde und eine Geißel empfanden. Es wird aber immer welche geben, die jene dunklen Tage die ›guten alten Zeiten‹ nennen und von Freiheit und der Macht der alten Götter faseln. In meinen Augen sind das Narren. Unzucht, L a sterhaftigkeit, Trunkenheit, Hurerei und öffentliche Au s peitschungen waren an der Tagesordnung. Aber ich halte dir hier einen Vortrag, dabei wolltest du nur eine schlic h te Antwort.«
Ich nickte stumm.
Er lächelte mich an. »Heutzutage ist es größtenteils nur noch Spaß, Junge. Ein saftiger Scherz zwischen Mann und Frau. Sie verschwindet vielleicht an dem Abend, um ihren Mann eifersüchtig zu machen. Oder die Ehefrau eines Mannes kommt in jener Nacht zu ihm, maskiert und geheimnisvoll, um ein wenig Romantik in eine Ehe zurückzubringen, die durch den Alltag schal geworden ist. Es ist eine Nacht für Masken und Gauk e leien und Spiele und schrille Launen. Menschen gehen als die Könige oder Königinnen von einst verkleidet auf die Straße, oder als Helden aus den alten Sagen oder als Nachtschatten, die den alten Göttern dienen. Aber stre u nen tatsächlich angesehene Frauen aus gutem Hause durch die Stadt und bieten sich als gemeine Huren an? Natürlich nicht! Oh, gewiss, die Eine oder Andere mag sich vielleicht an dieser Phantasievorstellung erhitzen, aber ich bin sicher, dass das äußerst selten v orkommt. Die Frauen, denen du in dieser Nacht begegnen wirst, werden berufsmäßige Huren sein, und ich bezweifle sehr, dass sie ihre Dienste gratis anbieten!« Er lachte erneut, doch dann wurde er plötzlich ernst und fragte mich h a stig: »Du bist doch hoffentlich davor gewarnt worden, dass Huren Ungeziefer und Krankheiten mit sich heru m tragen können?«
Ich versicherte ihm sogleich, dass ich gewarnt worden sei, und ich hatte mir in der Tat schon eine Reihe von ziemlich furchteinflößenden Vorträgen zu diesem Thema anhören müssen. Danach wünschte mein Onkel mir eine gute Nacht. Er hatte bereits kehrt gemacht und schon ein Stück auf dem Pfad zurückgelegt, als ich, einem spont a nen Impuls folgend, hinter ihm her rannte. »Onkel. Was Spink anbelangt. Wirst du … findest du, er verdient es, auf Bewährung gesetzt zu werden, weil er Briefe von Epiny bekommen hat? Schließlich konnte er ja nichts dafür.«
Seine Miene wurde plötzlich etwas düsterer. »In g e wisser Hinsicht ist es ungerecht, Nevare. Das ist mir b e wusst. Absolut korrekt hätte er sich verhalten, wenn er ihre Briefe ungeöffnet an mich zurückgesandt hätte. Dass er sie gelesen hat
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