Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
konnte ihn nicht erreichen. Meine Augen waren g e schlossen, mein Körper entspannt, aber mein Geist schwebte irgendwo in dem Bereich zwischen Wachen und Ruhen. Ich hatte das Gefühl zu hängen, hilflos über einem Abgrund zu hängen, und ich hatte nicht die Kraft, mich vor dem Fallen zu bewahren. Das Gefühl war zwe i felsohne verantwortlich für meine Alpträume von der Baumfrau.
Doch mein Traum begann nicht mit Schrecken und Entsetzen, sondern durchaus angenehm. Ich war in me i nem geliebten Wald, und es herrschten Ruhe und Fri e den. Das Sonnenlicht fiel durch das Blätterdach ü ber mir und sprenkelte meine Haut, und ich lächelte, als ich mir die Lichttupfer auf meinen bloßen Armen und Beinen anschaute. Der satte, würzige Geruch von Humus stieg rings um mich herum hoch. Ich hob eine Handvoll davon auf und betrachtete ihn. Es war eine Schicht aus altem Laub, die hinunterreichte bis zu dem schwarzen Leh m boden, der fünf Jahre zuvor Laub gewesen war. Winzige Insekten krabbelten geschäftig darin herum. Ein kleiner Wurm ringelte und wand sich verzweifelt auf meinem Handteller. Ich lachte und gab sie alle dem Waldboden zurück. Alles war gut. Ich sagte das auch zu meiner Me n torin. »Die Welt lebt und stirbt heute so, wie sie es sol l te.«
Die Baumfrau nickte mir zu. Ihre Bewegung ließ Schatten über mein Fleisch laufen. »Ich bin stolz auf dich, dass du allmählich begreifst, dass Sterben ein Teil des Lebens ist. Zu lange hast du an der Vorstellung fes t gehalten, dass jedes Leben bedeutsam sei und zu wichtig, um für das Ganze zu vergehen. Doch jetzt siehst du es ein, nicht wahr?«
»Ja. Und es tröstet mich.« Und das tat es auch. Z u mindest tröstete es den Teil von mir, der am Fuße des großen Baumes auf dem Waldboden saß und sich mit dem Rücken an seine raue Rinde lehnte. Dieser Teil von mir sah keine Frau, aber er fühlte sie und hörte, wie sie zu mir sprach.
Der Teil von mir aber, der in der Schattenregion zw i schen Träumen und Wachen schwebte, war entsetzt über mein Verhalten. Ich verkehrte mit dem Feind. Anders konnte man es nicht nennen. Meine schlimmsten Träume bestätigten sich, als ich sie sagen hörte: »Es ist gut, dass du das verstehen gelernt hast. Das wird es dir leichter machen.«
»Hattest du denn nicht anfangs auch Zweifel, als die Magie zum ersten Mal Anspruch auf dich erhob?«, fragte ich sie.
Ich spürte ihr wehmütiges Seufzen im sanften R a scheln des Laubwerks über mir. »Natürlich hatte ich die. Ich hatte Großes vor mit meinem Leben, und ich hatte Träume. Dann kam eine Zeit der Dürre. Ich dachte, wir würden alle sterben. Ich machte eine Geist-Reise, genau wie du. Ich wurde vor eine Wahl gestellt, genau wie du. Ich wählte die Magie, und die Magie wählte mich. Die Magie benutzte mich, und mein Volk überlebte.«
Atemlos im Schatten harrend, hörte ich, wie mein Ve r räter-Ich sie fragte: »Und die Magie wird auch mich b e nutzen?«
»Ja. Sie wird dich benutzen, wie du sie benutzt. Sie wird dir geben, und sie wird von dir nehmen. Du wirst das, was dir genommen wird, v ielleicht betrauern. Aber der Verlust wird dich stärker und treuer für deine Aufg a be machen.«
Mein Traum-Ich beschrieb eine Geste mit den Hä n den. Sie hätte entweder Loslassen ausdrücken können oder Anerbietung. Ich hatte das Gefühl, dass sie Hi n nahme ausdrückte. Ich empfand ohnmächtige Wut da r über, dass dieses andere Ich sich widerstandslos in ein solches Schicksal fügte. Und in meiner Wut war ich i r gendwie getrennt von ihm und konnte es beobachten. Es erfüllte mich mit Verachtung. Es lehnte sich zurück, nackt und lächelnd im sanften Balsam der Sonne. Seine Haut war gleichmäßig gebräunt, als hätte es noch nie auch nur einen Fetzen Kleidung getragen. Es hatte Schmutz unter den Fingernägeln, und seine nackten Füße waren bis zu den Knöcheln schwarz vor Dreck. Es war ein Mann, der sich in ein Tier des Waldes verwandelt hatte. Aber dieser Mann war zufrieden mit sich, zufri e den mit dem Leben, das er führte. Ich hasste ihn, hasste mich und meine Schwäche mit einer furchterregenden Inbrunst. Dann, als er seine Haltung veränderte, durc h fuhr mich ein Schauer der Angst. Ich hatte dieses Traum-Ich für meinen Zwilling gehalten, doch nun sah ich, dass es das nicht war. Was ich für einen Kopf gehalten hatte, der ebenso geschoren war wie meiner, war in Wahrheit ein kahler Schädel. Aus der Kuppe dieses Schädels spross wie der Schwanz eines Hahns ein Büschel Haare.
Weitere Kostenlose Bücher