Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ihre blumenreichen Formulieru n gen und ihre verschnörkelte Handschrift auf. Aber bis zur dritten Seite hatten sich der Zauber ihrer unschuldigen Zuneigung und ihre mädchenhaften Phantasien über das wunderbare Leben, das wir führen würden, deutlich a b genutzt. Was, fragte ich mich, wusste sie überhaupt von mir? Was würde sie von mir denken, wenn ich meine Geschichtsprüfung in den Sand setzte und meine gesamte Patrouille zum Ausschluss von der Akademie verdam m te? Würde sie mich immer noch so attraktiv finden, wenn mir nur noch die Wahl bliebe, mich als gemeiner Fußso l dat zu verdingen? Und erst ihr Vater? Wie würde der das finden? Oder hatten ihre Eltern, ähnlich wie meine Tante, Ambitionen und Pläne und sahen in ihrer Tochter bloß ein wertvolles Handelsgut, das sich gegen Bündnispar t ner und Vorteile eintauschen ließ?
Ich versuchte, diese unschönen Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen, und zwang mich dazu, den Brief zu Ende zu lesen. Er enthielt nichts Neues. Sie hatte ein Sticktuch genäht und bestickt und zwei Kürbisbrote nach einem neuen Rezept gebacken. Ob ich gerne Kürbisbrot äße? Sie freue sich so sehr darauf, für mich und unsere süßen kleinen Kinder zu kochen. Sie habe bereits damit begonnen, ihre Aussteuertruhe zu füllen. Sie hatte eine Zeichnung beigelegt, die sie selbst angefertigt hatte. Sie zeigte unsere ineinander verschlungenen Initialen. Sie habe bereits damit begonnen, die Ecken der guten Ki s senbezüge, die ihre Großmutter ihr für ihr künftiges Heim geschenkt habe, mit diesem Motiv zu besticken. Sie hoffe sehr, dass es mir gefalle. Sie schloss mit dem Wunsch, dass ich an sie dächte und dass ich ihr blaue Spitze von der Art schicken würde, wie ich sie meiner Schwester geschickt hatte, wenn ich bei Gelegenheit mal wieder in die Stadt käme.
Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich von Carsina nur wusste, dass sie hübsch und wohlerzogen war, gerne lachte, gut tanzen konnte und sich ausgezeichnet mit meiner Schwester verstand. In der kurzen Zeit, die ich mit meiner Base verbracht hatte, hatte ich Epiny besser kennengelernt als Carsina. Ich fragte mich plötzlich, ob Carsina wohl genauso e xzentrisch und willensstark war wie Epiny, und es nur besser zu verbergen verstand. Ich fragte mich, ob Carsina jemals eine Seance würde abha l ten wollen oder den halben Vormittag im Nachthemd im Haus herumspazieren würde. Ich fühlte mich sehr beu n ruhigt, als ich ihren Brief zusammenfaltete. Es war alles Epinys Schuld. Bevor ich sie kennengelernt hatte, war ich davon ausgegangen, dass Frauen ungefähr so wie Hunde oder Pferde waren. Wenn eine aus einem guten Stall kam und eine anständige Ausbildung erhalten hatte, brauchte man ihr nur zu sagen, was man von ihr erwart e te, und das würde sie dann guten Mutes ausführen. Ich will damit nicht etwa sagen, dass ich dachte, Frauen se i en dumme Tiere – ganz im Gegenteil, ich hielt sie für wunderbar empfindsame und liebenswerte Geschöpfe. Ich verstand einfach nicht, warum irgendeine Frau den Wunsch haben sollte, ihren gesellschaftlichen Stand zu verändern oder etwas gegen den Wunsch ihres Mannes oder ihres Vaters zu tun. Was konnte sie dadurch gewi n nen? Wenn eine wahre Frau von einem Heim und einer Familie und einem angesehenen Ehemann träumte, ve r riet und untergrub sie diesen Traum nicht, wenn sie sich gegen die natürliche Autorität ihres Mannes oder ihres Vaters auflehnte? So war es mir immer erschienen. Und jetzt hatte Epiny mir gezeigt, dass Frauen schlau, durc h trieben, zügellos, trügerisch und aufsässig sein konnten. Sie ließ mich plötzlich an der Tugendhaftigkeit aller Frauen zweifeln. Verbargen auch meine Schwestern so l che Ränke hinter ihren treuherzigen Blicken?
Die plötzliche Unsicherheit, die ich gegenüber meiner zukünftigen Ehefrau empfand, im Verein mit meiner Angst vor den bevorstehenden Prüfungen, versetzte mich in eine missmutige Stimmung. Beim Mittagessen sprach ich nur wenig und konnte es kaum ertragen, Natred und Kort dabei zuzuschauen, wie sie sich über die jüngsten Briefe von ihren Liebchen unterhielten. Es hob meine Laune auch nicht, zu sehen, wie Spink sehnsüchtig ihrer Konversation folgte. Er sah wie ein Wrack aus. Seine Uniform, die ohnehin nie richtig gesessen hatte, u m schlotterte ungebürstet und mit Schmutzflecken an den Aufschlägen seine hagere Gestalt. Seine Augen waren gerötet, sein Haar struppig und glanzlos, und seine Haut war von den vielen durchwachten Nächten
Weitere Kostenlose Bücher