Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
schnappte sich einen Armvoll von den Materialien von unserem Haufen und folgte ihm. In dem Moment entschied ich, dass ich die Herausforderung annehmen würde, statt, wie ich z u nächst erwogen hatte, darauf zu bestehen, dass Trist die Führung übernahm. Maw pfiff ein Liedchen, während er uns hinaus in die Kälte und den Wind führte. Wir stap f ten durch den gefrorenen und eisglatten Schnee auf den Rasenflächen zum Rande des Campus. Dort bedeutete er uns, unsere Sachen abzuladen und forderte uns auf, den Bach genau in Augenschein zu nehmen.
Als ich neben dem Haufen mit dem Material stand, den Maw unserer Patrouille zugeteilt hatte, rutschte mir das Herz in die Hose. Der Tilerbach war eine schlamm i ge Scharte am Rande des Akademiegeländes. Die Bä u me, die an seinen steilen, lehmigen Uferbänken wuchsen, waren stangendünne Schößlinge, die ihr Dasein jetzt kahl im eisigen Griff des Winters fristeten. Der Spalt, den wir zu überwinden hatten, stellte keine besondere Herausfo r derung dar. Früher war der Tilerbach wohl einmal ein richtiger Bach gewesen. Ich vermutete, dass die Hausha l te in der näheren Umgebung den größten Teil seines Wassers ableiteten und ihre Abfälle in das Bisschen wa r fen, das noch übrigblieb. Am Boden seines schlammigen Bettes war der »Bach« kaum mehr als ein trübes, kläglich dahintröpfelndes Rinnsal unter einer Schicht Eis und nur etwa elf Fuß breit. Es war sofort klar, dass wir nur eine Holzplanke hatten, die lang genug war, um vom einen zum anderen Ufer zu reichen. Wir hatten noch eine A n zahl kürzerer Bretter, Seil, Segeltuch, Pflöcke, einen Holzhammer, diverse Messer, einen Hammer, eine Säge und eine Handvoll Nägel. Das war alles. Nicht gerade ermutigend.
»Sichten wir unser Material und schauen, was wir h a ben«, schlug ich vor.
Das war ein Fehler. Trist sagte sofort: »Schauen wir doch lieber erst einmal, ob das eine lange Brett, das wir haben, über den Bach reicht.«
Sofort meldete sich Spink zu Wort. »Sieht aus, als hä t ten wir nur d as eine. Vielleicht müssen wir den anderen noch ein paar weitere abhandeln.« Ich sah plötzlich, wie die Sache laufen würde. Ich würde dem Schein nach die Verantwortung tragen, während in Wirklichkeit die be i den natürlichen Führer die Entscheidungen trafen und die Aufgaben verteilten. Sofort spürte ich den vertrauten Taumel der Unsicherheit, die mich immer plagte, wenn ich mich fragte, ob ich wirklich das Zeug zu einem guten Offizier hatte. Ich war zu eigenbrötlerisch, zu unabhä n gig, zu sehr gewohnt, alles allein zu machen, auf meine Weise. Vielleicht hatte mein Vater Recht gehabt und ich hatte wirklich nicht genug von dem, was man braucht, um ein guter Führer zu sein.
Die übrigen Mitglieder der Patrouille begannen Trists und Spinks Anweisungen zu folgen. Ich sah ein, dass ich nicht bestimmt und energisch genug aufgetreten war. Noch einmal würde mir das nicht passieren. Ich versuc h te, mit ebenso schneidender Stimme zu sprechen wie mein Vater. »Nein, halt, so fängt man keine Brücke an. Über den Steg und die Stützweite mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. Der bringt uns überhaupt nichts, wenn wir nichts haben, das ihn stützt. Wir brauchen erst einen ordentlichen Unterbau.«
Alle drehten sich zu mir um. Die anderen Patrouillen redeten und trugen Holzteile zum Bach und rollten Seil ab. In dem Kreis um mich herum herrschte für einen Augenblick Stille. Ich spürte sowohl die Kälte des T a ges als auch die des Zweifels meiner Kameraden. In dem Moment wusste ich, dass sie mir nicht folgen wü r den, und schlimmer noch, dass weder Spink noch Trist eine A h nung davon hatten, wie man eine Brücke baute. Wir würden alle durchfallen, weil ich meine einzige Chance zu führen kläglich vergeben hatte. »Gut, sorti e ren wir die Sachen«, sagte Spink zu Kort. Als sie lo s gingen, um meine Anweisung zu befolgen, zwinkerte Spink mir zu. Es beruhigte mich und ärgerte mich gleichzeitig. Damit wollte er mir sagen, dass er auf me i ner Seite war, und dass ich mit seiner Unterstützung fü h ren konnte. Ich war dankbar für seine Unterstützung, aber ich wollte nicht Führer von Spinks Gnaden sein, ich wollte führen kö n nen unabhängig davon, ob ich seine Unterstützung besaß oder nicht. Ich hätte liebend gerne gewusst, wie er und Trist es anstellten, dass andere ihnen freiwillig und sogar gern folgten. Was hatte ich nicht, das sie hatten?
Mir blieb keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbr e chen.
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