Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Gesicht sagen, dass ich meine Chance gehabt hätte und dass mir jetzt eben nichts anderes übrigbleiben würde, als mich zu den gemeinen Soldaten zu melden, zusammen mit all den anderen gemeinen Söhnen von gemeinen Soldatensö h nen. Es würde keine arrangierte Heirat für mich geben, kein Offizierspatent, keine glorreiche Zukunft als Tru p penbefehlshaber für den König. Ich fragte mich, ob es nicht das Beste für mich wäre, gleich morgen zu Maw zu rennen und ihn darum zu bitten, sich dafür einzusetzen, dass ich Kundschafter werden konnte.
Ich trat aus den eingeschlossenen Gerüchen und der stillen Wärme des Zelts hinaus in die kalte Nachtluft. In der Zwischenzeit war das Gedränge noch größer gewo r den, und mir wurde spätestens jetzt endgültig klar, dass ich keine Chance hatte, Epiny oder Spink oder sonst i r gendjemanden in einem solchen Chaos zu finden. Und selbst wenn ich Epiny fand, ihren Ruf konnte ich jetzt auch nicht mehr retten; dazu war es zu spät. Am besten, ich fuhr zurück zum Wohnheim und tat so, als hätte ich Spinks Zettel nie gefunden. Die ganze Welt war gemein und herb und k alt und dunkel; nirgends war ein freundl i ches Gesicht zu sehen. Ich schaute hinauf zum Nach t himmel, um mich zu orientieren, aber das Licht der Lampen und der flackernden Fackeln ließ die fernen Sterne verblassen. Und wenn schon. Ich würde auf dem gleich Weg zurückgehen, auf dem ich gekommen war. Irgendwo am Rande des Großen Platzes würde ich einen Droschkenstand finden und zurück zur Akademie fahren.
22. Schande
Es war spät. Nach der drückenden Enge des erleuchteten Zelts kam ich mir in der Kälte draußen und unter dem grenzenlosen Himmel seltsam nackt und allein vor, trotz der unzähligen Menschen, die in dieser Nacht unterwegs waren. Für mich war das Dunkelabendfest beendet. Ich wollte einfach nur noch nach Hause, in mein stilles, ve r trautes Zimmer. Doch um mich herum johlten die Massen und drängten mich von dem Weg ab, den ich eingeschlagen hatte, während sie trunken und ausgela s sen feierten. Ich steckte die Hände tief in die Taschen meines Mantels, zog den Kopf ein und die Schultern hoch und rempelte und drängelte mich so gut ich konnte durch das Gewühl. Ich hatte es aufgegeben, nach Epiny oder Spink Ausschau zu halten. Die Wahrscheinlichkeit, in einer derart riesigen Menschenmenge jemanden zu sehen, den ich kannte, war lächerlich gering. Ich war g e rade zu dieser Erkenntnis gelangt, da erblickte ich durch eine kurz sich auftuende Lücke in der Menschenwand zu meiner Rechten mehrere junge Männer in Akademie-Überröcken. Sie standen mit dem Rücken zu mir. Ich wandte mich in ihre Richtung; vielleicht waren es ja meine Stubenkameraden. Wenn ja, beschloss ich in di e sem Augenblick spontan, würde ich mit ihnen zu einer Hure gehen. Die Flatterhaftigkeit des Karnevals hatte am Ende auch mich in ihren Bann gezogen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Einer schrie: »Komm schon, sei ein Mann! Runter damit! Auf ex!« Drei andere griffen den Spruch auf und skandierten: »Auf ex! Auf ex! Auf ex!« Sie klangen nicht wie meine Freunde.
Ich wartete, bis eine Traube von Feiernden mit Träten vorbeigezogen war, und ging dann hinüber zu meinen Kommilitonen. Als ich näherkam, erkannte ich in ihnen sofort die Kadetten wieder, die ich vorher schon gesehen hatte. Jaris und Ordo waren auch dabei. Ich wandte mich hastig ab. Da hörte ich hinter mir plötzlich eine laute, gequälte Stimme: »Ich kann nicht mehr! Mir ist schlecht! Ich hab genug!«
»Nein, nein, mein Junge!«, widersprach ein hörbar a n geheiterter Jaris in einem Tonfall, der keinen Wide r spruch zuließ. »Runter damit, und wir besorgen dir eine Frau. Wie wir’s versprochen haben.«
»Aber erst musst du zeigen, dass du ein Mann bist. Los, hau das Zeug weg!«
»Es ist doch nicht mehr viel. Du hast schon mehr als die Hälfte geschafft!« Es war Ordo, der das sagte.
Der Chor der Stimmen ermutigte ihn. Ich wusste, dass er es tun würde. Caulder hatte der Aussicht auf Lob und Anerkennung noch nie widerstehen können. Morgen würde es ihm furchtbar dreckig gehen. Geschah ihm recht.
Eigentlich wollte ich weitergehen. Aber irgendetwas ließ mich innehalten und nach hinten schielen, um Zeuge dieser Szene zu sein, als wäre mein Bedarf an grotesken Spektakeln für diese Nacht nicht schon längst gedeckt. Caulder stand in ihrer Mitte, die Flasche in der rechten Hand. Er wankte beträchtlich. Doch noch während ich hinschaute, setzte er
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