Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
an. »Ja, es fällt einem schon ein wenig schwer, das zu glauben, Sir.«
»Sir«, wiederholte er leise. Dann lächelte er, und das Lächeln kerbte Linien in sein teigiges Gesicht. »Ist lange her, dass ein junger Soldat mich so genannt hat. Ich war Leutnant, als mir das passierte. Ich war auf dem Weg nach oben. Sie sagten mir, in ein bis zwei Monaten wü r de ein Posten frei werden, und ich würde Hauptmann im alten Regiment meines Vaters werden. Ich war so glüc k lich. Ich dachte, dann hat es sich letzten Endes ja doch noch alles gelohnt.« Sein Gesicht verklärte sich, sein Blick wanderte ins Weglose. Dann richtete er plötzlich den Blick auf mich. »Aber du bist einer, der an der Ak a demie studiert. Du rümpfst wahrscheinlich die Nase über einfache Soldaten wie mich. Mein Vater war auch ein einfacher Soldat, der den Aufstieg zum Offizier geschafft hatte. Aber weiter als bis zum Oberstabsfeldwebel hat er’s nie gebracht. Als ich meine Leutnantsstreifen krie g te, war er selig. Er und meine Mutter verkauften buc h stäblich alles, was sie besaßen, um mir ein Patent zu ka u fen. Ich war entsetzt, als ich das erfuhr.«
Er verstummte plötzlich, und das verklärte Lächeln, das die Erinnerung an jene Zeiten auf sein Gesicht g e zaubert hatte, verblasste jäh. »Nun«, sagte er und lachte rau. »Mein Herr Papa war immer ein guter Geschäft s mann, und ich wette, er hat einen Spitzenpreis herausg e schlagen, als er das Patent weiterverkaufte.« Er sah mein verblüfftes Gesicht und lachte erneut, diesmal noch eine Spur rauer. Er zeigte auf seinen Körper. »Nun, nachdem mir das hier passiert war, was sollte ich da schon groß machen? Meine Karriere war zu Ende. Ich ging zurück in den Westen, in der Hoffnung, dass meine Familie mich aufnehmen würde. Aber sie wollten nicht einmal mit mir sprechen. Sie wollten nicht einmal zugeben, dass der, der da vor ihnen stand, ich war. Mein alter Herr erzählt j e dem, dass sein Sohn im Kampf gegen die Fleck gefallen war. Damit liegt er nicht einmal so falsch. Es war die verdammte Fleck-Seuche, der ich das hier zu verdanken habe.« Er zeigte erneut auf seinen Körper.
Schwerfällig tappte er zum Rand seiner Bühne und ließ sich ebenso schwerfällig nieder. Die Art und Weise, wie er sich auf den Bühnenrand plumpsen ließ, wirkte furchtbar linkisch und unbeholfen. Er ließ die Beine über den Rand baumeln. Seine Halbschuhe waren abgetragen und platzten fast aus den Nähten. Seine Füße waren fett und wirkten mitgenommen, und sie waren viel breiter, als sie es hätten sein sollen. Ich wollte weg, aber ich konnte mich schließlich schlecht einfach umdrehen und gehen. Ich wünschte mir, dass andere Schaulustige kommen und ihn von mir ablenken würden. Es gefiel mir nicht, dass er so freundlich und leutselig war. Ich musste mich zwi n gen, interessiert zu wirken.
»Und da bin ich dann in die Stadt gegangen«, fuhr er fort. »Ich fing an, an Straßenecken zu betteln, aber ni e mand glaubt einem fetten Mann, der sagt, er sei kurz vor dem Verhungern. Und ich wäre auch tatsächlich verhu n gert, hätte ich nicht diese Arbeit gefunden. Sie unte r scheidet sich in gewisser Weise gar nicht mal so sehr vom Dienst in der Kavalla. Aufstehen, seinen Dienst tun, essen, ins Bett gehen. Aufeinander aufpassen, zusa m menhalten. Das sagt man doch auch über die Kavalla, nicht? Dass wir stets aufeinander aufpassen. Stimmt’s, Kavallerist?«
»Richtig«, sagte ich voller Unbehagen. Ich hatte das Gefühl, dass er gezielt auf etwas zusteuerte, auf irgende i ne Beschwörung von Kameraderie und Brüderschaft, die ich nicht hören wollte. Ich musste weg, sofort. »Ich muss jetzt los«, sagte ich. »Ich muss meine Base suchen.« Die Worte weckten sofort Schuldgefühle in mir. Sie waren bloß ein Vorwand, und sie erinnerten mich daran, dass ich Epiny und Spink und die Gefahr, in der sie womö g lich schwebte, völlig vergessen hatte.
»Ja, richtig, er muss los«, sagte die dicke Frau auf i h rem Diwan. Sie hatte von irgendwo eine neue Schachtel mit Süßigkeiten hergezaubert und löste jetzt das blaue Band, das die kremfarbene Schachtel umgab. Sie sprach, ohne einen von uns beiden anzusehen. »Er weiß, dass du ihn gleich um ein paar Heller anbetteln wirst. ›Ich war in der Kavalla, bitte gib mir ein bisschen Geld.‹ Das lan g weilt mich zu Tode. Hab es einfach zu oft gehört.«
»Halts Maul, du fette alte Schlampe!«, versetzte der Mann wütend. »Es ist wahr! Ich war in der Kavalla, und ich war
Weitere Kostenlose Bücher