Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
gehorsam den Flaschenhals an den Mund, hob die Flasche und trank. Er kniff die Augen fest zu, als fühle er Schmerz, aber ich sah, wie sein Adamsa p fel wiederholt auf und ab hüpfte. »Ex, ex, ex, ex!«, setzte der Chor um ihn herum wieder ein. In dem Moment schoben sich wieder Menschen zwischen mich und die Szene und verstellten mir den Blick. Ich wandte mich erneut zum Gehen. Da vernahm ich von hinten lauten Jubel und grölende Zustimmung. »Toll, Caulder! Wie ein echter Kerl! Du hast es geschafft!« Der Applaus ging jedoch sogleich in höhnisches Gelächter über. Jaris lachte und schrie: »Das hat ihm den Rest gegeben, Jungs! Der läuft uns heute Nacht nicht mehr hinterher! Kommt, wir gehen zu Lady Parra. Die lässt uns bestimmt rein, jetzt, wo wir den Kleinen nicht mehr an den Hacken kleben haben.«
Und sie machten sich alle fünf sogleich auf den Weg. Johlend und lachend rempelten und drängelten sie sich durch die Menge und waren gleich darauf aus meinem Blickfeld verschwunden. Caulder konnte ich nirgends sehen. Er war wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. Ich hatte nichts damit zu tun, und ich wollte auch nichts d a mit zu tun haben. Ich war sicher, dass irgendjemand am nächsten Tag dafür verantwortlich gemacht würde, und dass dieser Jemand ganz bestimmt nicht Caulder war. Je weiter ich mich von ihm fernhielt, desto besser war es für mich. Gleichwohl ertappte ich mich einen Augenblick später dabei, wie ich mir durch die Menschentraube e i nen Weg zurück zu der Stelle bahnte, an der Caulder b e wusstlos auf dem Rücken lag.
Seine Rechte hielt noch immer den Flaschenhals u m klammert. Es war i rgendein billiges, hochprozentiges Gesöff, kein Wein oder Bier, und ich fuhr unwillkürlich zurück, als mir sein scharfer, beißender Gestank in die Nase stieg. Caulder lag regungslos da. In dem unsteten Licht des Platzes war sein Gesicht von dem gleichen schmutzigen Weiß wie der plattgetrampelte Schnee unter ihm. Sein Mund stand offen, sein Blick war starr. Eine Halbmaske baumelte ihm an einer Schnur um den Hals. Sein Bauch hob sich ein wenig, und er zuckte krampfa r tig, wobei er würgende Laute von sich gab. Der aufg e stoßene Fusel rann ihm aus den Mundwinkeln wie ein dunkler, fauliger Tümpel, und ein wenig davon lief ihm an der Wange herunter. Er hustete matt und holte r ö chelnd Atem. Dann wurde er wieder ganz still. Er stank bereits nach Erbrochenem, und seine Hosenaufschläge waren noch besudelt von älterer Kotze.
Ich wollte ihn nicht anfassen. Aber ich hatte von Me n schen gehört, die an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt waren, nachdem sie zu viel getrunken hatten. So zuwider war er mir nun auch wieder nicht, dass ich gewollt hätte, dass er an seiner eigenen Dummheit zugrunde ging. Also hockte ich mich neben ihn und drehte ihn auf die Seite. Als ich ihn berührte, würgte er einmal trocken, und kaum dass er auf der Seite lag, erbrach er sich heftig. Ein Schwall von Kotze schwappte auf den schmutzigen, überfrorenen Schnee, auf dem er lag. Er erbrach sich zweimal, und dann rollte er wieder auf den Rücken. Se i ne Augen gingen nicht auf. Als mir plötzlich auffiel, wie bleich er war, bekam ich einen Schreck. Ich zog meinen rechten Handschuh aus und berührte sein Gesicht. Seine Haut war kalt und klamm, nicht, wie man hätte meinen sollen, gerötet vom Trinken. Wieder holte er tief und mit einem röchelnden Geräusch Luft.
»Caulder! Caulder? Wach auf! Du kannst hier nicht bewusstlos werden. Du wirst totgetrampelt oder e r frierst!« Die Leute, die sich an uns vorbeizwängten, ac h teten meist überhaupt nicht auf den kleinen Körper, der da ausgestreckt am Boden lag. Eine Frau mit einer Fuchsmaske kicherte, als sie an uns vorbeiging. Niemand blieb stehen oder gaffte oder bot seine Hilfe an. Ich fasste Caulder bei den Schultern und schüttelte ihn. »Caulder! Steh auf! Ich kann nicht die ganze Nacht hier bei dir bleiben! Steh auf!«
Er holte erneut Luft, und seine Augenlider flackerten. Ich packte ihm beim Kragen und hievte ihn so weit hoch, dass er saß. »Wach auf!«, schrie ich ihn an.
Er schlug die Augen halb auf und schloss sie sofort wieder. »Ich hab’s getan«, lallte er matt. »Ich hab’s g e tan. Ich hab die Flasche ganz ausgetrunken! Ich bin ein Mann. Holt mir eine Frau!« Er lallte beim Sprechen, und seine Stimme war kaum vernehmbar, so leise war sie. Noch immer war die Farbe nicht in sein Gesicht zurüc k gekehrt. »Ich fühle mich nicht gut«, sagte er plötzlich. »Mir ist
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