Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
fest.«
»Los!«, sagte ich, aber meine Kräfte schwanden rasch. Willenlos ließ ich mich von dem Doktor zurück in meine Kissen drücken. Ich versuchte nicht, mich noch einmal aufzusetzen.
»So ist’s besser«, sagte er. »Am Ende brauchen wir ihn vielleicht gar nicht festzubinden.«
Ich versuchte, mich an seinen Worten festzuhalten, aber ich bekam sie nicht zu fassen. Ich glitt wieder z u rück in gewöhnliche Albträume. Als ich am späten Mo r gen aufwachte, war ich froh, ihnen entronnen zu sein, und ich fühlte mich so erschöpft, als hätte ich die ganze Nacht um mein Leben gekämpft. Ein Wärter brachte mir Wasser. Erleichtert stellte ich fest, dass es klares, reines Wasser war, ohne irgendwelche Medizin, die seinen G e schmack verdarb. Ich trank es in tiefen Zügen. Doktor Amicas war nirgends zu sehen. Das Bett zu meiner Rec h ten war leer, und eine alte Frau mit vom Alkohol verw ü steten Zügen zog die Laken herunter. Ich drehte den Kopf in die andere Richtung. Spink war da, aber er schlief noch, ungeachtet der Helligkeit und des gedämp f ten Getriebes um uns herum. Mehrmals fragte ich nach Nate und Oron, aber die Wärter schienen keine Namen zu kennen.
»Sie kommen und gehen zu schnell«, sagte ein Mann zu mir. Er kratzte sich die bärtige Wange. »Die Betten sind noch nicht einmal kalt, bevor wir den Nächsten hi n einpacken. Alle, die auf dem Dunkelabendfest waren, sind krank. Die ganze Stadt hat sich inzwischen die Se u che eingefangen, hab ich gehört. Mit Ausnahme von mir. Ich hatte schon immer eine gute Konstitution. Und ich bin ein guter Mann, vom gütigen Gott gesegnet. In jener Nacht bin ich zu Hause bei meiner Frau geblieben, j a wohl. Lassen Sie sich das eine Lehre sein, junger Mann. Wer an die dunklen Götter glaubt, kriegt es in deren Münze heimgezahlt.«
Seine Worte verunsicherten mich. Der fiebrige Geist ist für Andeutungen empfänglich. Die Worte tanzten in meinem Hirn herum und stießen schließlich mit etwas zusammen, das Epiny gesagt hatte. Oder war es etwas, das ich geträumt hatte? Und zwar, dass man die Magie eines älteren Gottes nicht benutzen kann, ohne sich für sie anfällig zu machen. Ich fragte mich, ob ich gesündigt hatte, indem ich zum Dunkelabend gegangen war, und ob dies nun die Strafe war, die der gütige Gott über mich verhängt hatte. Schwach, wie ich war, wurde ich rührs e lig und versuchte zu beten, doch nur, um ständig in den Versen stecken zu bleiben.
Später fiel mir auf, dass ich den Mann nie wieder g e sehen hatte. Mein fieberumnebelter Geist nahm wahr, dass die Leute, die die Eimer ausleerten und den stö h nenden Kadetten frisches Wasser brachten, nicht mehr mit der Präzision von Leuten agierten, die eine militär i sche Ausbildung genossen hatten. Es arbeiteten mehr Frauen im Krankenrevier, als ich erwartet hätte, und e i nige von ihnen schienen nicht gerade von lauterem Ch a rakter zu sein. Einmal beobachtete ich eine dabei, wie sie die Jackentaschen eines Kadetten durchsuchte, während er bewusstlos und stöhnend in seinem Bett lag. Ich hatte nicht die Kraft, meine Stimme oder meine Hand zu erh e ben. Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, war der Kadett vom Kopf bis zu den Zehen mit einem schmuddeligen Laken bedeckt. Wach geworden war ich von einem lautstarken Wortwechsel zwischen dem Do k tor und zwei alten Männern in matschverdreckten Kle i dern.
»Aber er ist tot!«, insistierte einer der alten Männer. »Es ist nicht recht, ihn da liegen zu lassen, bis er stinkt. Es stinkt schon genug hier drin.«
»Lassen Sie ihn liegen!«, sagte Doktor Amicas ei n dringlich, aber mit seltsam kraftloser Stimme. Er sah um Jahre gealtert aus, geradezu hinfällig. »Ohne meinen ausdrücklichen Befehl darf keine Leiche aus diesem Zimmer entfernt werden. Decken Sie ihn zu, wenn Sie meinen, Sie müssten das tun, aber lassen Sie sie liegen, wo sie sind. Ich möchte, dass mindestens zwölf Stunden zwischen dem Eintreten des Todes und dem Abtransport der Leichen vergehen.«
»Aber es ist nicht recht! Es ist respektlos!«
»Ich habe meine Gründe. Halten Sie sich an meine Anweisung!«
Der andere Mann fragte plötzlich: »Stimmt es, was ich gehört habe? Dass eine Frau lebendig in ihren Sarg g e legt wurde, und als sie sie endlich gegen den Deckel klopfen hörten, war es zu spät? Dass sie auf dem Le i chenkarren auf dem Weg zum Friedhof gestorben ist?«
Der Doktor sah abgehärmt aus. »Ich wiederhole: Ohne meine ausdrückliche Genehmigung darf keine
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