Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Leiche aus diesem Krankenrevier weggeschafft werden«, sagte er leise.
»Herr Doktor«, krächzte ich. Als er sich beim Klang meiner Stimme nicht umwandte, versuchte ich, mich zu räuspern. Ich war zu schwach u nd bekam meine Stim m bänder nicht frei, doch als ich gleich darauf erneut »Herr Doktor!« krächzte, wandte er sich zu mir um.
»Was ist denn, mein Junge?«, fragte er beinahe freundlich.
»Haben Sie bei Oberst Stiet ein Wort für mich eing e legt? Weiß er, dass Caulder ihm die Unwahrheit über mich gesagt hat?«
Er sah mich verwirrt an, mit einem Gesichtsausdruck, der mir sagte, dass er die Angelegenheit, die mir so sehr auf der Seele lag, schon wieder vergessen hatte. Geiste s abwesend tätschelte er mir die Schulter. »Caulder ist sehr krank, mein Junge, und dem Oberst geht es auch nicht gut. Er fürchtet, dass er seinen einzigen Sohn verlieren wird. Dies ist nicht der richtige Moment, um ihn auf i r gendetwas anzusprechen.«
Dann stöhnte jemand ein Stück weiter den Flur hinu n ter laut, und ich hörte, wie ein Schwall Flüssigkeit auf den Boden klatschte. Der Doktor hastete davon und nahm alle meine Hoffnung mit sich. Caulder würde ste r ben. Niemand würde je beweisen können, dass er die Unwahrheit über mich gesagt hatte. Lebendig oder tot, ich war entehrt. Wenn ich starb, konnte mein Vater seine Scham begraben. Wenn ich starb, konnten mein Vater oder ich nicht weiter entehrt werden.
Als ich diesmal ins Fieber sank, tat ich dies mit voller Absicht. Entschlossen wandte ich den Mund von der kühlen Tasse weg, die mir jemand an die Lippen hielt. Ich würde nicht trinken.
Ich starb.
Ich kam an einen Ort der Dunkelheit und der Leere und blickte in einen trüben, ewigen Abend. Doch ich war nicht allein. Andere irrten dort herum, genauso glücklos und gelangweilt wie ich. Es war schwierig, einzelne G e sichter zu erkennen. Ihre Züge waren verschwommen, und die Kleider waren kaum mehr als Schatten, doch hier und da stach ein Detail heraus. Eine Frau rief sich ihren Ehering in Erinnerung, und er leuchtete golden an ihrer ätherischen Hand. Ein Zimmermann hielt seinen Ha m mer in der Hand. Ein Soldat ging an mir vorbei, auf se i ner Brust glänzende Tapferkeitsmedaillen. Aber die me i sten besaßen keine individuellen Züge, kein in Ehren g e haltenes Andenken an ein früheres Leben. Ohne ein Ziel, ohne Ehrgeiz bewegte ich mich unter ihnen. Nach einer unbestimmten Zeit fühlte ich mich in eine bestimmte Richtung gezogen, und ich gab dem Ruf, dem Sog nach.
Wie Wasser, das den Weg des geringsten Widersta n des sucht, ließ ich mich aufnehmen von dem langsamen Strom der scheidenden Geister.
Schließlich merkte ich, dass wir uns einem Abgrund näherten. Die meisten der Geister trieben auf den Rand zu, verharrten noch einen Moment und flossen dann ei n fach über ihn weg, um für immer zu verschwinden. Ich erreichte den Rand und blickte nach unten. Ein Teich aus Licht, auf dem schillernde Regenbogen schwammen wie Öl auf Wasser, wartete dort unten auf uns. Während ich hinunterschaute, näherte sich mir eine Frau. Sie blickte eine Zeitlang hinunter und trat dann in die Leere. Lan g sam trieb sie von mir weg. Sie schwand dahin und verlor an Substanz, wie Tinte, die sich in Wasser auflöst. Alle r dings konnte ich nicht erkennen, ob sie je den stillen Teich erreichte oder nicht. Ich betrachtete den Teich eine Weile, aber dann bemächtigte sich meiner das starke G e fühl, dass er mir nicht bestimmt war. Nein. Auf mich wartete etwas anderes.
Ich trieb am Rand der Klippe entlang, und war mir d a bei vage bewusst, dass ich die wirbelnde Flut von Ge i stern hinter mir ließ. Schließlich ließ ich mich von einem Rinnsal anderer Geister aufnehmen. Wir sprachen nicht miteinander und schauten uns nicht an. Der nackte Fels ragte über eine weitere Schlucht, die ohne Grund zu sein schien. Ein einzelner toter Baum erhob sich dräuend über den sich versammelnden Seelen. Und eine primitive Seilbrücke, ein zerbrechliches Geflecht aus bleichen Ranken und grünen Kletterpflanzen, überspannte die Kluft. Ein in die Erde gerammter Schwanenhals hielt das Ende des feinen gelben Fußseiles ganz in meiner Nähe. Die Handläufe bestanden aus einer sich ringelnden Kle t terpflanze, die in dem großen Baum endete, der die Kli p pe überschattete. Ein Schauer des Wiedererkennens wie auch der Vorahnung durchfuhr mich.
Soldaten hatten sich versammelt, um die Kluft zu überqueren. Kavallasoldaten. Kadetten von der Akad e mie,
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