Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
humpelnde Veteranen, Offiziere im Ruhestand. Sie warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. Ein kalter Wind blies. Er trug die fernen Rufe der Lebenden zu uns herüber. »Papa, Papa!«, rief jemand, ganz leise, aus we i ter Ferne. Der betagte Mann neben mir neigte das Haupt, und ätherische Tränen liefen ihm über das bleiche G e sicht. Jetzt war er an der Reihe. Er trat auf die Brücke, das Haupt in einen Wind geneigt, den ich nicht spürte.
Unter den Versammelten sah ich Trist, und Natred und Oron. Sie sprachen weder mit mir noch miteinander. Stumm und grau bewegten sie sich mit den Übrigen we i ter, an nichts interessiert als an ihrem langsamen Vo r rücken, dem Tod entgegen. Mir wurde bewusst, dass das unsere Bestimmung war. Wie ich waren sie dabei zu sterben, und hier warteten unsere Geister, am Übergang vom Leben zum Tod. Manche verharrten lange Zeit hier und schienen sich dem Sog zu widersetzen. Andere schienen sich schnell zu entscheiden und traten mit kü h nem Schritt auf die Brücke. Es war, wie mir plötzlich bewusst wurde, eine Brücke, die nicht hierher gehörte. Vor meinem Bund mit der Baumfrau hatte es sie noch nicht gegeben. Sie und ich hatten diesen Übergang g e schaffen, gewirkt und gewoben aus unserem Selbst. Ich hatte die Magie ihres Volkes in mich aufgenommen und ihr die Magie meines Volkes überlassen. Daraus war di e ser Übergang gemacht, der die Geister anderer Soldaten, Soldaten wie ich, zum Überqueren verlockte. Auch sie, erkannte ich plötzlich, hatten die Magie ihres Volkes b e rührt. »Bleib fest«, hatten sie gesagt und dabei über ihren Sattelgurten das Zeichen gemacht, nicht wissend, dass die Magie, wenn die Zeit gekommen war, sie ebenfalls festhalten würde. Doch als die Reihe weiterschlurfte, floss ich mit ihr, ohne zu denken, ohne mich zu widerse t zen. Auch ich würde hinüberschreiten. Als ich schlie ß lich an der Reihe war, trat ich an dem Kidona-Schwanenhals vorbei, der das Fußseil der Brücke siche r te, und betrat die Brücke. Ich schlurfte mit den anderen vorwärts.
Erst als ich die Mitte der Brücke erreichte, hob ich den Blick, um mein Ziel ins Auge zu fassen. Eine grausige Hölle erwartete uns. Sie erinnerte mich an den abgehol z ten Uferhang, an dem ich auf meiner Schiffsreise nach Alt-Thares vorbeigekommen war, aber es war nicht de r selbe Ort. Vor mir lag eine Hügellandschaft, die dem Erdboden gleichgemacht worden war. Die abgeholzten Stümpfe ließen mich winzig erscheinen, und der Begriff »Baum« bekam eine ganz neue Bedeutung für mich. Ri e sen hatten dort geblüht – und waren nicht mehr. Das Reich des Waldgottes war geplündert und gebrandschatzt worden. Kalter Regen fiel darauf und fräste Bäche und Rinnsale in seine nackten Flanken. Die immer noch schwelenden Haufen aus zerhacktem Unterholz und Astwerk glommen in einem dunklen, bösen Rot. Dampf und Rauch stiegen von ihnen auf. Stiefel und Pferdehufe hatten das Bisschen an Pflanzen und Unterholz, das noch übriggeblieben war, in den schlammigen Boden getra m pelt. Die zertretene Vegetation lag da wie hingeschlac h tete Kinder. Nur auf den Kuppen der Hügel standen noch Bäume, und ich wusste, dass ihre Herrschaft bald beendet sein würde. Eine noch rohe, unfertige Trasse schlängelte sich auf sie zu.
»Nevare!«, rief ein Mädchen irgendwo weit hinter mir. »Nevare, komm zurück!«
Hatte ich nicht einmal jemanden mit Namen Nevare gekannt? Ich wandte langsam den Kopf und blickte z u rück. Die mich gerufen hatte, war nicht da. Sie hatte nicht die Macht, mich zu erreichen. Andere treibende Seelen überquerten die Brücke hinter mir. Oron sah ich unter ihnen, und auch Natred. Wieder andere befanden sich noch in der wartenden Menge. Ich erkannte Caulder und Spink unter ihnen. Ach. Auch sie starben also. Und auch sie waren aufgerufen, die Brücke zu überqueren. Ich wandte mich wieder nach vorn und ging weiter.
Als die Geister vor mir den gerodeten Hang erreichten, begannen sie ziellos umherzuirren. Ihre Ziellosigkeit schien eine Form von Marter zu sein, als hätten sie zuvor irgendein festes Ziel gehabt und könnten sich nun nicht mehr daran erinnern. Einige gingen zu den schartigen Stümpfen der toten Bäume und berührten sie, stemmten sich gegen sie, als seien sie Türen, die nicht nachgeben wollten. Langsam sanken jene neben den Stümpfen ni e der und verflüssigten sich zu einer dicken weißen Nebe l suppe am Fuße der gefällten Bäume. Eine Rauchfahne stieg von jedem von ihnen auf,
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