Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
habe ich jetzt noch.«
»Was ist hier los!«, fragte Oberst Stiet, der in diesem Moment im Türrahmen erschienen war. Aber seine Stimme war nur noch ein Schatten seines einstigen be l lenden Kasernenhoftons. Als ich mich umdrehte, sah ich einen alten Mann im Hausmantel, der sich auf einen Gehstock stützte. Auf seinem Kinn spross ein fahlgrauer Dreitagebart, und sein Haar war ungekämmt. Als er mich erkannte, knurrte er: »Ich hätte mir denken können, dass Sie das sind. Haben Sie jetzt erreicht, was Sie wollten?«
Ich hielt den Brief hoch, den Caulder mir geschickt hatte. Ich hatte nicht beabsichtigt, dass er mir aus der Hand glitt, aber er tat es, und er s egelte durch die Luft und landete genau vor den Füßen des Obersts. »Ihr Sohn hat mich gebeten hierherzukommen. Dieser Bitte bin ich nachgekommen. Wie ich jetzt erfuhr, haben Sie ihm g e sagt, er solle diese Einladung aussprechen.« Ich war überrascht – nicht über die Tiefe meines Zorns, sondern über die Kälte, mit der ich meine Stimme beherrschte. Ich sprach ganz ruhig und hielt dem Blick des alten Mannes stand, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
Er wandte sich von mir ab und seinem Sohn zu, und ich sah Entsetzen und Abscheu in seinen Augen. Dann verzog sich sein Mund zu einem Ausdruck von Wut und kaum zurückgehaltenem Hass. »Nun, wie ich sehe, haben Sie Ihr Mütchen an ihm gekühlt. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht, ein armes, zitterndes Hündchen wie Cau l der zu treten. Sind Sie jetzt zufrieden, Sir?« Er sprach das Wort aus, als sei all dies meine Schuld.
»Nein, Sir, das bin ich nicht.« Nach wie vor gelang es mir ohne Probleme, meine Stimme sachlich und neutral klingen zu lassen. »Sie haben mich auf Grund einer Lüge unehrenhaft entlassen. Gilt das immer noch? Soll es in meiner Akte verbleiben und für immer als Makel an mir haften? Und was werden Sie mit den Kadetten machen, die wirklich schuldig waren? Die Ihren Sohn mit billigem Fusel abgefüllt und andere Kadetten gemeinschaftlich verprügelt haben?«
Für einen Moment stand er nur da und schwieg. Außer dem unsteten, rasselnden Atem von Caulder, der in sich zusammengesunken auf seiner Chaiselongue kauerte, war es totenstill. Dann hörte ich Oberst Stiet deutlich schlu c ken. Mit jetzt wieder ruhiger Stimme sagte er: »In Ihrer Akte gibt es keinen Vermerk über Ihre unehrenhafte En t lassung. Sie können jederzeit auf die Akademie zurüc k kehren, wenngleich ich nicht weiß, wann der Lehrb e trieb wieder aufgenommen wird. Das liegt in der En t scheidung meines Nachfolgers. Er sucht zur Zeit nach Lehrkräften, als Ersatz für die verstorbenen. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Jedes Mal, wenn er mich das fragte, klang es wie ein Vorwurf. Fand er mich unmäßig, nur weil ich Gerechti g keit und die Wiederherstellung meiner Ehre verlangte? »Nein, Sir, ich bin nicht ›zufrieden‹. Was wird mit den Kadetten geschehen, die Ihren Sohn mit billigem Fusel vergiftet haben?« Ich wiederholte meine Frage mit der gleichen Kälte und Nüchternheit wie beim ersten Mal.
»Das geht Sie nichts an, Kadett!« Er musste husten, überfordert von s einer eigenen Heftigkeit. Dann fügte er hinzu: »Ich bin der Auffassung, dass nichts dadurch g e wonnen wird, dass man die Ehre der Toten entweiht. Sie sind beide an dieser üblen Pestilenz zugrunde gegangen. Der gütige Gott wird für Sie über sie richten, Kadett Burvelle. Sind Sie nun endlich zufrieden?«
Ich kam der Blasphemie so nahe wie noch nie zuvor in meinem Leben, als ich erwiderte: »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, Sir. Guten Tag, Oberst Stiet. Guten Tag, Caulder.«
Ich ging an Oberst Stiet vorbei zur Tür. Als ich hi n durchtrat, zeigte Caulder, dass er vielleicht doch noch einen Funken vom Mut in seiner Brust hatte. Er erhob seine zitternde Stimme und rief mir hinterher: »Noch einmal danke, Nevare. Möge der gütige Gott dich b e schützen.« Dann schlug Oberst Stiet die Tür eine Spur zu fest hinter mir zu. Während ich nach unten ging und Oberst Stiets nobles Wohnhaus verließ, lauschte ich dem Geräusch meiner Stiefel auf den Treppenstufen.
Ich ritt zurück zum Hause meines Onkels und brachte Sirlofty selbst in den Stall. Eigentlich war ich der Me i nung gewesen, ich sei wiederhergestellt, aber jetzt mer k te ich, wie viel Kraft mich die Begegnung gekostet hatte. Ich ging auf mein Zimmer, schlief den ganzen Nachmi t tag, und als ich schließlich aufwachte, funkelten bereits die Sterne am Nachthimmel, und ich war hellwach.
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