Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Mein Reisekoffer war in das Haus meines Onkels gebracht worden, wahrscheinlich gleichzeitig mit mir. Es sah darin aus, als wären alle Sachen aus meinem Zimmer im Wohnheim hastig hineingestopft worden. Ich packte ihn sorgfältig neu. Als ich zu Carsinas Briefen kam, die ich zu einem Stapel zusammengebunden hatte, öffnete ich sie und las sie nacheinander sorgfältig durch. Was wusste ich von ihr? So gut wie nichts. Dennoch empfand so e t was wie Verlust, als ich sie wieder in ihren jeweiligen Umschlag zurücksteckte und sie erneut zu einem Päc k chen zusammenband. Ich hatte den Eindruck, dass Epiny und ihre Fragen mir etwas genommen und mein Leben schwieriger gemacht hatten. Trotzdem wünschte ich ihr und Spink alles Glück dieser Welt. Sie würden es wohl brauchen.
Ich glaube, dass der Ritt und meine Konfrontation mit Caulder und Oberst Stiet meiner Gesundheit über Gebühr zugesetzt hatten. Am nächsten Tag schwitzte ich stark und hatte das Gefühl, einen Rückfall bekommen zu h a ben, und an diesem und den beiden darauffolgenden T a gen blieb ich im Bett. Epiny und Spink waren fort. Zwar besuchte mich mein Onkel, aber er blieb nicht lange. Ich glaube, er hielt mich eher für lustlos und trübsinnig als für krank.
Am dritten Tag stand ich auf, obwohl mir überhaupt nicht danach zumute war, und zwang mich dazu, einen Spaziergang durch den Garten zu machen. Am Tag da r auf dehnte ich meinen Spaziergang noch ein wenig aus, und am Ende der Woche spürte ich, dass es mit meiner Gesundheit langsam wieder bergauf ging. Mein Appetit kehrte mit solcher Macht zurück, dass es mich selbst ve r blüffte und dem Küchenpersonal geradezu den Atem ve r schlug. Ich erholte mich rasend schnell und spürte, wie mein Körper plötzlich gleichzeitig nach Nahrung und nach Bewegung lechzte. Mit Freuden gab ich ihm, was er verlangte. Als Doktor Amicas mir einen Überraschung s besuch abstattete, sagte er geradeheraus: »Sie haben nicht nur das Gewicht wiedererlangt, das Sie vor der Erkra n kung hatten, Sie haben gleich auch noch eine ordentliche Schicht Fett mit draufgepackt. Vielleicht sollten Sie sich Gedanken darüber machen, ob Sie Ihren Appetit nicht ein wenig zügeln möchten.«
Als er das sagte, musste ich grinsen. »Das liegt bei uns in der Familie, Sir. Meine Brüder und ich gehen immer erst ein wenig in die Breite, bevor wir dann in die Höhe schießen. Ich hatte eigentlich gedacht, ich sei ausg e wachsen, aber ich wage zu behaupten, dass das ein Ir r tum war. Vielleicht werde ich ja, bis ich zur Hochzeit meines Bruders nach Hause fahre, der Längste in unserer Familie sein.«
»Ja, vielleicht«, sagte er vorsichtig. »Aber ich möchte Sie trotzdem einmal in der Woche bei mir auf dem Kra n kenrevier sehen, sobald der Unterricht wieder anfängt. Ihre Genesung ist einzigartig, Kadett Burvelle, und ich würde sie gern für eine Abhandlung dokumentieren, die ich über die Fleckseuche schreibe. Würde Ihnen das e t was ausmachen?«
»Ganz und gar nicht, Sir. Alles, was ich irgend tun kann, um mitzuhelfen, dieser Krankheit Herr zu werden, will ich tun. Ich betrachte es als meine selbstverständl i che Pflicht.«
Als mir eine Woche später ein Diener einen Brief von der Kavallaakademie des Königs brachte, beäugte ich ihn erst einmal eine ganze Weile skeptisch, bevor ich mich dazu durchrang, ihn zu öffnen. Ich befürchtete, dass er irgendeinen letzten hinterhältigen Racheakt von Oberst Stiet enthalten würde, ein schlechtes Zeugnis und eine unehrenhafte Entlassung. Doch als ich ihn öffnete, fand ich bloß die schlichte Benachrichtigung, dass der neue Kommandant das Datum für die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs festgelegt hatte. Alle Kadetten waren aufg e fordert, sich innerhalb von fünf Tagen in ihrem jeweil i gen Wohnheim zu melden. Ab sofort galt an den Toren der Akademie wieder militärisches Protokoll, und einige Kadetten würden in ein anderes Quartier verlegt werden. Ich starrte die Nachricht eine ganze Weile an, und ich glaube, das war der Moment, an dem ich endlich voll und ganz begriff, dass der Kelch an mir vorübergegangen war. Ich war gesund, ich war wieder gesund, und ich war immer noch Kadett. Das Leben, das ich mir immer für mich vorgestellt hatte, lag allem Anschein nach immer noch vor mir.
Ich ging hinunter in die Bibliothek meines Onkels und verbrachte die ganze Nacht damit, die Militärtagebücher meines Vaters zu lesen. Falls er jemals an seinem Schicksal gezweifelt hatte, so hatte er das seinen Tag
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